Paragraf 301
geregelt, dass der Rechtsuchende aufstehen muss, wenn das Gericht den Saal betritt, überlegte Schlüter grimmig und zum tausendsten Mal.
Mit brüchiger Stimme eröffnete der Vorsitzende die Verhandlung, stellte die Anwesenheit der Anwesenden fest, belehrte den Dolmetscher über seine Pflicht zur unparteiischen Übersetzung und ließ alles zu Protokoll nehmen.
»Die Sach- und Rechtslage wurde erörtert«, diktierte er und übergab die Rede der Richterin zu seiner Linken, die Berichterstatterin in dieser Sache war, einer Dame mit graudünnem Haar in Pagenschnitt und schießschartenschmaler Lesebrille. Das Ritual des Sachvortrages, das Referat des Akteninhalts, den Schlüter natürlich kannte, sie sprach immer nur einen Satz, sah den Dolmetscher ausdruckslos an, wartete, bis er übersetzt hatte, begann den nächsten Satz. Alles ohne jede Gefühlsäußerung, ohne die Stimme zu heben, in trockenstem Aktendeutsch. Es fiel Schlüter schwer zuzuhören, aber er spannte sich an und verfolgte jedes einzelne Wort, damit er eingreifen konnte, falls etwas falsch wiedergegeben wurde. Je höher man in der Gerichtshierarchie vordrang, desto förmlicher wurde verhandelt, desto steifer waren die Gesichter; die Kollegin Sabatier behauptete gar, Richter am OLG werde nur, wessen Gesicht sich nicht von der Farbe des Putzes in den Gerichtsfluren abhob. Schlüter sehnte sich zum Amtsgericht in Hemmstedt; dort wurde noch ein Deutsch gesprochen, das jeder verstand, und das Gericht hatte Muskeln im Gesicht und benutzte sie auch.
Am 1. Juli 1993, berichtete die Berichterstatterin, habe in der anatolischen Stadt Sivas ein alevitisches Kulturfestival des Vereins Pir Sultan Abdal stattgefunden. Der Schriftsteller Aziz Nesin, mit diversen anderen Festivalteilnehmern im Hotel Madımak einquartiert, habe am gleichen Tag einen Vortrag im alevitischen Kulturzentrum gehalten. Am Morgen des 2. Juli hätten in der Stadt Unbekannte Flugblätter mit dem Titel Für das islamistische Publikum verteilt, mit denen die teilweise Veröffentlichung des Romans Die satanischen Verse von Salman Rushdie in türkischer Übersetzung durch den Herausgeber Nesin kritisiert worden und die Gläubigen aufgefordert worden seien, sich zu vereinigen und »gegen die Freunde des Teufels« zu kämpfen. Gegen 13.30 Uhr sei es zu einer Versammlung von Personengruppen gekommen, die zuvor in der Großen Moschee und in der Meydan Moschee ihr Gebet verrichtet hätten. Man stimmte Sprechchöre an, die sich gegen den Gouverneur, der die Erlaubnis für das alevitische Kulturfestival erteilt hatte, und gegen Nesin richteten. Die Versammlung vor dem Gouverneurssitz sei auf Betreiben der Sicherheitskräfte aufgelöst worden, habe sich jedoch vor dem Hotel wieder zusammengefunden. Dort seien Steine geworfen und ein Denkmal zerstört worden, das tags zuvor errichtet worden war. Gegen 16.05 Uhr sei es den Sicherheitskräften gelungen, auch dort die Versammlung aufzulösen. Dennoch habe sich abends gegen 18.00 Uhr erneut eine aggressive und erregte Menschenmenge vor dem Hotel eingefunden, die auf zehn- bis fünfzehntausend Menschen angewachsen sei. Unter lautstarker Begleitung von Sprechchören seien Fensterscheiben eingeschlagen, Autos und eine Atatürk-Büste beschädigt worden. Einigen der unmittelbar vor dem Hotel befindlichen Männer sei es gelungen, die Absperrung zu überwinden, in das Gebäude zu gelangen und Einrichtungsgegenstände und Vorhänge hinauszuwerfen, mit denen unter Zuhilfenahme von Benzin das Gebäude in Brand gesetzt wurde.
Im Hotel – hier hob die Berichterstatterin den Blick, um Gül über den Rand ihrer Lesebrille hinweg zu fixieren – seien fünfunddreißig Menschen infolge von Brand- und Raucheinwirkungen und zwei weitere durch Schussverletzungen ums Leben gekommen.
»Dazu Fragen?«, fragte die Berichterstatterin. Sie hatte graue Augen und den gefühllosen Blick einer Schildkröte.
»Vorerst nicht«, erklärte Schlüter vorsichtig.
»Der Prozessvertreter des Verfolgten erklärt, er habe vorerst keine Fragen«, diktierte die Schildkröte der Protokollantin.
Will die mich ärgern?
»Zunächst der weitere Sachverhalt.«
Gül sei am 4. Juli 1993 inhaftiert worden und am 16. Juli 1993 in Untersuchungshaft gekommen. In dem anschließenden Strafverfahren vor dem 1. Staatssicherheitsgericht Ankara seien von einhundertdreiundzwanzig Angeklagten siebenundzwanzig mangels Beweises freigesprochen worden, sechsundzwanzig wegen Brandstiftung mit Todesfolge zu
Weitere Kostenlose Bücher