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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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Schwarz-Weiß-Kopie eines Gesichts.
    »Kennen Sie den?«
    »Lassen Sie mal sehen«, kooperierte Schlüter, nahm das Papier, strich es glatt, legte es auf dem Tisch ab, nestelte seine Lesebrille aus dem Jackett und setzte sie auf.
    »Nein«, sagte er nach einem kurzen Blick auf das Porträt, das einen jungen Mann mit schwarzen Haaren zeigte. »Warum?« Er reichte das Bild dem Wirt und schob die Brille zurück.
    Der Gastwirt betrachtete das Bild aufmerksam. »Ich bin mir nicht ganz sicher«, sagte er. »Ich habe viele Gäste. Auch wenn das im Moment nicht so aussieht. Vielleicht war er mal da. Kommt mir aber nicht bekannt vor. Sieht aus wie ein Türke – ist das einer?«
    Er stand auf und steckte sein Teeglas über die Bürste im Abwaschbecken. Seine Bewegungen waren ruhig und konzentriert.
    »Und den?«, fragte der Polizist. Er hielt ein zweites Blatt vor der Brust und wandte sich wieder zuerst an Schlüter.
    »Moment«, erklärte der und setzte die Lesebrille auf. Das Bild zeigte Veli Adamans schmales, ernstes Gesicht, ein gutes Porträt, noch keine alte Aufnahme. »Hm«, machte Schlüter. »Nee, auch nicht. Wer ist das denn?«
    Der Polizist trug das Papier zum Tresen.
    »Der hat weiße Haare«, brummelte der Gastwirt wie im Selbstgespräch. »Mehr als ich, wenn auch nicht viel. Aber ob der mal hier war? Glaub ich eher nicht …«
    Der Schnauzbärtige wischte ihm das Foto aus der Hand. »Danke«, raunzte er. Und zu seinem sichelbeinigen Kollegen: »Komm!«
    An der Tür drehte sich der Schnauzbärtige um. »Sagen Sie mal«, begann er und näherte sich langsam wieder Schlüters Ecktisch. »Sind Sie nicht …?«
    »Schlüter mein Name«, nickte Schlüter.
    »Der Rechtsanwalt?«
    »Ja. Und Notar. Warum?«
    »Was machen Sie hier eigentlich?«, fragte der Polizist.
    »Tee trinken«, antwortete Schlüter. »Türkischen Tee, sollten Sie auch mal probieren, der ist wirklich …«
    »Ach was«, winkte Ewald Schäfer ab, endlich war Schlüter der Name eingefallen.
    »Und Sie, warum sind Sie hier?«, fragte er. »Haben die zwei was verbrochen?«
    »Das werd ich Ihnen bestimmt nicht sagen«, wehrte Schäfer ab. »Das geht Sie nichts an.«
    Schlüter hörte heraus, dass Schäfer ihm die Scheidung noch nicht verziehen hatte. Dabei war die Geschichte bestimmt zehn Jahre her.
    Schäfer starrte auf den Tisch. »Was ist das für ein Stein?«, fragte er.
    Schlüter nahm den Stein in die Hand, drehte und wendete ihn. Er fühlte sich kühl und glatt an. Ein sehr stummer Zeuge. »Ein Völkermordstein«, antwortete er.

    »Ein was?«
    »Ein Völkermordstein. Ein Stein, der Zeuge eines Völkermordes war. Ich trage ihn immer bei mir.« Schlüter ließ den Stein in seine Hosentasche gleiten. »Seit ich ihn habe«, fügte er hinzu.
    »Muss ich das verstehen?«, fragte Ewald Schäfer und machte ein dummes Gesicht.
    »Nein«, antwortete Schlüter. »Man kann solche Sachen nicht verstehen.«
    Endlich gingen die beiden Polizisten. Unmittelbar danach öffnete sich die Tür erneut und eine Familie trat ein, ein dunkelhäutiger Mann, eine hellhäutige Frau und zwei Jungen im Grundschulalter. Der Vater rieb sich die Hände und nahm seiner Frau den Mantel ab.
    Der Gastwirt war hinter seinem Tresen hervorgetreten und lächelte. Er begrüßte die Gäste und verteilte Speisekarten.

    »Das ist ein Zaza aus der Gegend von Palu, er ist Sunnit und ganz in Ordnung«, flüsterte er wenig später, als er Schlüter Tee nachschenkte. »Die Armee hat sein Dorf zerstört und die Felder, vor zehn Jahren schon, deshalb ist er nach Deutschland gekommen. Übrigens – auf dem ersten Bild: Das war Heyder Cengi. Sie sind den beiden auf den Fersen.«

    Schlüter zog den Bierdeckel aus der Tasche und las: Osman Barut – Buchhandlung Inönü Bulvarı. Menez und Nuri Cengi, Ovacık. Besê Adaman, Tunceli, Sanat Sokak 5. Er drehte die Pappe um und schrieb mit Adamans Stift auf die andere Seite: Latsch Derisi 14.000. Gäjickßuju 20.000 . Rothenfels. Schlüter legte den Stein auf den Bierdeckel und starrte beides an, als könnten sie Veli Adamans Rede fortsetzen. Aber sie schwiegen, sie beantworteten Schlüters Fragen nicht. Warum war die Polizei ausgerechnet jetzt ins Bosporus gekommen? Hatte jemand einen Tipp gegeben, dass Adaman hier war? Hitler und das Dersim – stimmte das? Und was hatte Gül mit Adaman zu schaffen? Oder war das alles nur Zufall? Und vor allem: Was sollte er tun? Erschöpft ließ Schlüter sich zurücksinken. Ihn grauste vor dem Termin in

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