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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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Und genauso wie die Juden sind wir, die wir noch leben, überall verstreut. Deutschland, Schweiz, Holland, Schweden. Asyl bekommen wir selten, Asyl bekommt nur, wer geschossen hat, wer Blut an den Händen hat, denn sonst kann er keine Verfolgung nachweisen, der Friedliche ist vogelfrei. Seit gestern Abend, als ich das Buch … und mich dieser Rothenfels …«

    Adamans Augen weiteten sich plötzlich, Schlüter hielt den Atem an, er fühlte einen winzigen kühlen Schmerz im Nacken. Adaman ließ sich in einer einzigen fließenden Bewegung von seinem Stuhl gleiten, der große Mensch klappte zu einem fliehenden Tier zusammen, auf allen vieren bewegte er sich rückwärts und war verschwunden. Der Vorhang hing still.

    Komm, sei unser Beschützer! / Komm endlich, komm, sei unser Beschützer! / In Dersim ist das Volk verlassen und ohne Schutz …

    Schlüter hörte, wie die Restauranttür geöffnet wurde. Er zwang sich, sich nicht umzusehen, widerstand dem Impuls, das Teeglas seines Gesprächspartners mit einem Handgriff zu verstecken, nahm stattdessen sein eigenes und hielt sich daran fest, während er den Bierdeckel in seine Jacketttasche gleiten ließ und Adamans halb gerauchte Zigarette nahm, die im Aschenbecher qualmte.
    Der Stein lag immer noch auf dem Tisch.
    Der Gastwirt tauchte wie aus dem Nichts hinter dem Tresen auf und machte sich an den Gläsern zu schaffen.
    »Guten Tag, womit kann ich Ihnen dienen?«, fragte er geschäftsmäßig.
    Langsam drehte Schlüter sich um. Durch die Ranken der Plastikblumen sah er zwei Uniformierte, keine zwei Meter von der Eingangstür entfernt. Sie näherten sich jetzt dem Tresen.
    »Wir suchen einen Mann«, sagte der größere von beiden, ein mächtiger Schnurrbart verbarg seine Oberlippe. Seine Augen flitzten im Raum umher.
    »Mich?«, fragte Schlüter und versuchte zu lächeln. Er zog an der Zigarette und sog vorsichtig den Rauch in die Lunge. Der Mann kam ihm bekannt vor. Wo hatte er ihn schon mal gesehen?
    »Sie nicht – aber vielleicht den, der mit Ihnen Tee getrunken hat«, antwortete der Polizist. Er hatte eine tiefe Stimme, breite Schultern und ein pockennarbiges Gesicht.
    »Der steht vor Ihnen«, antwortete Schlüter und nickte dem Gastwirt zu, der sich die beiden Teekannen schnappte und nachschenkte. Anschließend setzte sich der Wirt auf Adamans Stuhl, zündete sich eine Zigarette an, legte sie aber nach zwei Zügen in den Aschenbecher zu Adamans Kippen, nahm Zucker und fragte, während er sich erhob, die Polizisten: »Darf ich Ihnen auch einen Tee anbieten?«

    »Moment!«, grantelte der Schnauzbärtige, wischte den kleinen Gastwirt beiseite und zerteilte mit seinen langen Armen den Vorhang zur Küche. Bevor er verschwand, zeigte er Schlüter einen mächtigen Steiß und einen Fleck auf der linken Backe. Schlüter vermutete Schokolade.
    Der Gastwirt wandte sich an den verbliebenen Polizisten: »Bitte erklären Sie mir … Möchten Sie Tee?« Der Polizist hatte Silberhaare, Sichelbeine und einen vorstehenden Bauch, unter dem der Gürtel eine faltige Uniformhose hielt. Er sah aus, als freute er sich auf seine Pension, und sagte nichts.
    »Der Tee ist noch frisch. Kennen Sie türkischen Tee?«, versuchte es der Gastwirt noch einmal und setzte nach einer kleinen Pause hinzu: »Ich habe keine Geheimnisse. Bei mir kann jeder in die Küche, auch ohne Durchsuchungsbefehl. Ich werd’s auch bestimmt nicht dem Gesundheitsamt sagen. Bitte!« Damit zog er den Teppich auseinander und lud den zweiten Polizisten zur Durchsuchung ein.
    Schlüter sah den dreieckigen Ausschnitt einer menschenleeren neonhell erleuchteten Küche, große Töpfe auf einer langen Platte, eine Kipppfanne, silberne Geräte an der Rückwand.
    Der Polizist winkte ab. »Danke«, sagte er nur und blieb stehen, halb zwischen Tür und Tresen.
    Der Gastwirt zuckte die Schultern, leerte den Aschenbecher vom Tisch in einen silbernen Müllschlucker und setzte sich wieder zu Schlüter. Rührte seinen Tee und trank einen Schluck. »Wollen Sie mir nun erklären, was Sie …«
    Der Sichelbeinige drehte sich um, denn die Eingangstür ging auf und der Schnauzbärtige betrat das Lokal zum zweiten Mal.
    »Nichts«, sagte er und zwirbelte seinen Bart.
    Schlüter erhob sein Glas und genehmigte sich einen kräftigen Schluck. Vielleicht war der Tee doch gar nicht so schlecht.
    Der Schnauzbärtige baute sich vor dem Tisch auf, zog ein Papier aus der Brusttasche, faltete es auseinander und präsentierte dem Gastwirt und Schlüter die

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