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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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glauben. Wir glauben, dass jeder für sich und sein Leben verantwortlich ist, daran, dass ein Mensch seines eigenen Glückes Schmied ist, wir denken so ähnlich wie die Protestanten hier, und manche von uns, die sich vom Islam abgrenzen wollen, treten sogar zum Christentum über. Da staunen Sie, was? Ich behaupte: Wir Aleviten sind die Brücke zu Europa und die Türkei wird nur dann zu Europa gehören, wenn sie ihre Aleviten anerkennt und ihnen Freiheit gibt – oder nie. Und wir werden nur frei, wenn die Türkei die europäischen Grundrechte anerkennt.«
    »Wie viele gibt es überhaupt?«, fragte Schlüter.
    »Aleviten? Oh, es gibt natürlich keine Zählungen. Und je nachdem, wen Sie fragen, werden Sie eine andere Auskunft bekommen. Es gibt Türken, Kurden, Zaza, vielleicht zwanzig Millionen Menschen. Andere sagen: nur fünf Millionen. Und weil das Alevitentum im Dersim immer besonders stark war …«
    Hastig nahm Adaman einen Schluck Tee. »Sie müssen meinem Neffen helfen, wenn er in Schwierigkeiten kommt«, sagte er unverhofft. »Er hat einen Bruder gehabt, Ramazan, der zur PKK gegangen ist, nachdem er miterlebt hat, wie 1986 das Dorf geräumt wurde. Unsere Leute sind traumatisiert, verstehen Sie? Sie fallen zurück in das Jahr 1938, wenn sie die Armee sehen. Alles wiederholt sich, keine Sicherheit, nur Willkür. Wenn Gott das noch einmal zulässt, hat Ramazan gesagt, dann will ich mit Gott nichts mehr zu tun haben. Ramazan hat die Waffe genommen und sie haben ihn verschleppt und umgebracht. Heyder ist weicher. Er ist desertiert. Nach zwei Monaten. Sie haben ihn gefasst. Eine Zeit lang war er in Haft deshalb. Wir konnten ihn durch Bestechung aus der Haft befreien, und dann ist er aus dem Land geflohen. Wenn er zurückmüsste in die Türkei – sie werden ihn wieder in Haft bringen. Das hält er nicht durch. Sie werden ihn foltern. Nach Namen fragen.« Adaman sah sich seine Finger an und lachte grimmig.
    »Und warum hat Ihr Neffe kein Asylrecht bekommen? Ich meine, wenn er in der Türkei eine Haftstrafe zu erwarten hat, dann …«
    »Asyl ist nur für die, die Blut an den Händen haben!«, unterbrach Adaman. »Wer einen Asylantrag stellt, ist registriert. Und wenn er abgelehnt wird, wird er verhaftet und abgeschoben. Das konnte Heyder nicht riskieren!«

    Adaman nahm einen Stift zur Hand und zog aus seiner braunen Jacke ein Brillenetui, öffnete es und setzte sich eine Brille auf; jetzt sah er, fand Schlüter, aus wie ein Lehrer, fast wie ein Gelehrter.
    Adaman griff sich einen Bierdeckel, kritzelte etwas darauf und schob ihn Schlüter zu. »Meine Frau, sie heißt Besê. Versprechen Sie mir, dass Sie das gut aufbewahren. Unbedingt! Halt!«, unterbrach er sich und griff wieder nach dem Bierdeckel. »Ich schreibe Ihnen noch einen Namen auf. Meinen Freund Osman in Sivas. Seine genaue Adresse habe ich nicht. Aber es gibt einen Buchladen am Inönü Bulvarı. Dort kann man nach ihm fragen. Vielleicht ist er auch noch in seinem Institut, neben dem Hotel Madımak. Für den Fall, dass Sie Auskünfte oder Hilfe brauchen, können Sie sich an Osman wenden, er wird Ihnen helfen, auch wenn sein Name das Gegenteil vermuten lässt. Aber seien Sie nachsichtig mit ihm, er glaubt, uns zu kennen, und doch weiß er nichts von uns …« Adaman ergänzte die Notiz auf dem Bierdeckel.
    »Ich mich an ihn wenden? In der Türkei?«, fragte Schlüter. »Wie stellen Sie sich das denn vor?«
    »Ich stelle mir vor, dass Sie das Richtige tun werden«, antwortete Adaman und zündete sich die wer weiß wievielte Zigarette an. »Heyders Mutter heißt Menez, sein Vater Nuri, sie wohnen in Ovacık.« Er kritzelte die Namen auf den Bierdeckel, schob ihn über den Tisch. »Gut aufbewahren, unbedingt!« Damit schien das Thema für ihn erledigt, denn er fragte: »Kennen Sie den völkerrechtlichen Grundsatz von der Nichteinmischung in die Angelegenheiten eines anderen Staates?«

    Schlüter nickte wieder. Das war ein Pfeiler, auf dem das zivilisierte Zusammenleben der Völker ruhte.
    Adaman lachte böse auf. »Diesem Grundsatz haben wir so manchen Völkermord zu verdanken. Gerade findet einer in Jugoslawien statt. Und wissen Sie eigentlich, dass der Völkermord im Dersim das Vorbild für Hitler war? Übrigens der einzige Völkermord auf gesetzlicher Grundlage: das Tunceli-Gesetz Nr. 3195 von 1936! Hitler war begeistert von der Planung und Durchführung. So geheim, so verschwiegen, so effektiv. Er hat die Juden Europas später auf gleiche Weise vernichtet.

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