Paragraf 301
über trippelnden Stiefeln machte. »Den haben Sie doch schon mal vertreten, oder?«
Schlüter hatte Probleme, den Schamabstand zu wahren. Der Präsident konnte nur Paul Clever meinen, der Mann, mit dem Schlüter in der ersten Januarwoche telefoniert hatte, um sich mit Adaman im Bosporus zu verabreden. Erst hörte man drei Jahre lang nichts von ihm, dann zweimal hintereinander.
»Mhhm«, machte der Präsident und wühlte mit dem Schlüssel herum. Er ächzte angestrengt.
»Was hat er denn gemacht?«, fragte Schlüter.
»Er hat versucht, sich umzubringen.« Die tiefe Stimme des Präsidenten klang hölzern und uninteressiert. Sein Interesse galt ausschließlich dem Schlüsselloch, in dem er rührte wie mit dem Schleef im Kochkessel. Endlich knirschte es erfolgreich im Schloss, der Präsident machte sich gerade und schob die hohe zweiflügelige Doppeltür auf.
»Ist das strafbar?«, fragte Schlüter kiebig. In ihm war sofort der Strafverteidiger hellwach.
»Nein, das nicht«, antwortete der Präsident, während sie zu dritt den Gerichtssaal betraten. »Aber er ist jetzt im Krankenhaus und die können ihn nicht länger dabehalten. Außerdem fantasiert er was von einem Schloss und einem geklauten Flügel. Vielleicht ist er verrückt geworden und wir müssen ihn einweisen.«
»Verrückt ist der garantiert nicht«, widersprach Schlüter. Schloss und Flügel?
Saal 118 war ein schäbiger großer Raum mit scheckigen Wänden, auf dessen linker Seite an einem Hufeisen aus Tischen verhandelt wurde, während rechts Reihen hölzerner Stühle der Öffentlichkeit, wartenden Prozessparteien und ihren Anwälten dienten. Durch die Fenster hatte man einen entmutigenden Blick auf marode Dächer und Hinterhöfe; bis hier, an den Ostrand der Stadt, war kein Sanierungsgeld geflossen und jetzt, nach der Wiedervereinigung, war die große Frage, ob das je passieren würde. In diesem Saal wurden die meisten Zivilprozesse des Bezirks entschieden und so sah er auch aus: müde, zerschlissen, abgearbeitet. Die Uhr an der Wand ging schon lange nicht mehr, denn Gerechtigkeit kennt keine Zeit.
Die Advokaten strebten ihren Plätzen zu, setzten sich an die schmalen Enden des Hufeisens, Meier-Mertes links, er war der Beklagte, Schlüter rechts, als Kläger.
Wahrscheinlich hatte Clever wieder eine seiner periodisch auftretenden Diebstahlsarien gesungen und Schlösser geknackt, dachte Schlüter, während er sich seine Robe überwarf, die er Zaubermantel nannte, weil sie ihn, obwohl mittlerweile gänzlich ohne Knöpfe, von einem Menschen in einen Kontrahenten, mitunter in einen Werwolf verwandelte. »Was für ein Schloss und was für ein Flügel ist denn gemeint?«, fragte er.
Von Hauff stieg über einen mit Paketkleber am Fußboden befestigten Kabelzopf und trat hinter die Breitseite des Hufeisens. »Er hat vom Schloss Lieth gefaselt, wissen Sie, von dem, wo neulich die Gräfin gestorben ist. Und von einem Klavier. Und natürlich von einer Frau. Aber den Namen, den wollte er nicht verraten. Was sollen wir damit anfangen? Übrigens hat Clever sich Benzin gespritzt. In den Arm. Aber vorerst ist er über den Berg.«
Schlüter sagte nichts. Schlösser und Klaviere!
»Das ist ja nicht sein Umgang sonst«, erklärte der Präsident. »Wenn man die Akten liest. Wir sprechen nachher drüber.«
Damit war die Sache vorläufig erledigt. Der Präsident unterwarf durch seine graue Hornbrille die drei Prozessakten einzeln der Prüfung, indem er ihre Aktenzeichen studierte, sie langhalsig mit denjenigen auf dem Terminszettel verglich, der auf jedem der drei Plätze lag. Er nickte befriedigt und legte die Akten in richtiger Reihenfolge aufeinander.
Währenddessen hatte auch Meier-Mertes seine Robe aus einem besonderen Fach seines schwarzen Gerichtskoffers befreit, wo sie korrekt gebügelt und gefaltet ihres Einsatzes harrte. Er knöpfte sie zu, bis nur noch sein sehniger Hals mit dem Adamsapfel herausragte.
Der Präsident rückte sich auf dem Richterstuhl zurecht, beäugte das Handteil seines Diktiergerätes wie den Kopf einer Giftschlange, griff dann aber doch beherzt zu, verdeckte den Aufnahmeknopf mit seinem dicken Daumen, quetschte, warf einen Seitenblick auf das Gerät – ja, die kleine Spule drehte sich – und begann mit stadionlauter Stimme: »Achtung! – Achtung!! – An die Kanzlei!!!« Er räusperte sich und fuhr etwas leiser fort: »Es folgt ein Diktat der öffentlichen Verhandlung am 31. Januar 1995. Es spricht Amtsgerichtsdirektor von
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