Paragraf 301
Hauff.«
Meier-Mertes und Schlüter schlugen ihre Akten auf.
»Es folgt das erste Diktat in dem Rechtsstreit …«, der Präsident zog die Akte erneut unter seine Brille und las: »Elfers und von Allwörden gegen Rathjens, Aktenzeichen 62 C 53/94.«
Alteingesessene Namen aus der Gegend. Urbewohner dieses Landstriches an der Unterelbe. Seit dem Krieg hatte man von der Überfremdung durch die Flüchtlinge profitiert, denn es gab keine Inzucht mehr und man konnte ins Nachbardorf gehen, ohne dort verprügelt zu werden. Nachdem sich die Industrie angesiedelt hatte, strömte die zweite Zuwanderungswelle und brachte neue Namen, neue Prozesse. Aber es dauerte immer noch zwei Generationen, bis man kein Zugereister mehr war, und Schlüter hatte erst gut zwanzig Jahre hinter sich.
»Es sind erschienen für die Kläger – Rechtsanwalt Schlüter aus Hemmstedt.« Der Präsident blickte kurz auf, Schlüter nickte bestätigend. »Und für den Beklagten Rechtsanwalt Meier-Mertes aus Hemmstedt.« Meier-Mertes senkte sein langes Eselsgesicht wie der Papst bei der Audienz.
Das waren die Präliminarien. Nun kam der Präsident zur Sache. Er breitete den Streitstoff nach den Regeln eines Gutachtens aus. Das hieß: Erörterung der Sach- und Rechtslage. Es war einer dieser Prozesse, die Schlüter am liebsten vermieden hätte, aber das war ihm nicht gelungen. Er hatte die alte Rathjens im jahrelangen Kampf gegen ihren Sohn vertreten. Nun war sie tot, seit Jahren schon, und es musste in der nächsten Generation um Gerechtigkeit gefochten werden. Schlüter klagte im Namen der Töchter, Elli Elfers und Käthe von Allwörden, beide geborene Rathjens, gegen ihren Bruder Hans-Herrmann Rathjens. Der Präsident listete die von Schlüter eingeklagten Kosten auf: Friedhofsgebühren, Ausheben der Grabstelle, Träger, Grabstein, Blumen, Grabeinfassung, Danksagung, Bewirtungskosten. Von allem ein Drittel.
»Wenn ich unterbrechen darf, Herr Vorsitzender«, warf Meier-Mertes ein. »Es ist nicht richtig, dass die Bewirtungskosten nach der Beerdigung unstreitig sind!«
»Nein?«, fragte der Präsident irritiert.
»Ich verweise auf« – Meier-Mertes blätterte kompetent in seinen Dokumenten und erhob den Zeigefinger, mit dem er den Takt zu seiner Rede schlug – »Seite 3 meines Schriftsatzes vom – ähm – 14. Juni 1994, in dem ich vorgetragen habe, dass ein Betrag in Höhe von mindestens 35,– DM pro Klägerin abzuziehen ist wegen ersparter Selbstverpflegungsaufwendungen. Die Klägerinnen hätten zu Hause auch gegessen, beziehungsweise, weil sie am Leichenschmaus teilgenommen haben, haben sie zu Hause weniger gegessen, und das müssen sie sich abziehen lassen!«
Der Präsident griff zum Diktierkopf. »Ich werde das aufnehmen«, kündigte er an. Er hatte die Angewohnheit, alles zu protokollieren, auch wenn es bereits schriftsätzlich vorgetragen war.
Er hob das Mikrofon an den Mund, quetschte den Aufnahmeknopf, warf erneut einen misstrauischen Seitenblick auf das Gerät – jawohl, die rote Lampe für Aufnahme leuchtete – und sprach: »Der Beklagtenvertreter erklärt Doppelpunkt ein Betrag in Höhe von fünfundzwanzig Mark ist abzuziehen Komma weil …«
» Fünfunddreißig Mark, Herr Vorsitzender!«
»Moment«, sagte der Präsident. Er spulte zurück und drückte auf den Wiedergabeknopf, Hoffnung im Gesicht. Eine Heliumstimme quäkte: »Achtung! Achtung!! An die …« Das Gesicht des Präsidenten hatte sich verdüstert.
Vorwärtsspulen. »…wörden gegen Rathjens.«
Weiter. Mickymausgeräusche. »…zwanzig Mark ist abzuziehen Komma weil …« Zu spät.
»Äh!«, machte der Präsident, starrte den Schlangenkopf in seiner Hand wütend an, als wollte er hineinbeißen, und spulte wieder rückwärts.
»… für die Kläger – Rechtsanwalt Schlüter aus Hemmstedt«, quäkte es, die Lippen des Präsidenten sprachen den Text konzentriert nach. »Und für den Beklagten Rechtsanwalt Meier-Mertes aus Hemmstedt. Der Beklagtenvertreter erklärt Doppelpunkt ein Betrag in Höhe von fünfundzwanzig Mark ist abzuziehen Komma weil …«
»Äh!«, machte der Präsident wieder und quetschte den Knopf.
»… erste Diktat in dem Rechtsstreit Elfers und von Allwörden gegen Rathjens …«
Der Präsident schüttelte seinen schweren Kopf, schürzte die Lippen und legte seine Stirn in unzählige kleine Falten.
Endlich hatte er die Einsetzstelle gefunden, ein beherztes Zudrücken. Der Präsident diktierte: »Der Beklagtenvertreter erklärt
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