Paragraf 301
in den Schriftsätzen standen. Schlüter schaltete auf Durchzug, damit er nicht anfing zu kreischen. Es hatte keinen Zweck. Man würde ohnehin in der Berufung weiterstreiten, der Streitwert war hoch genug und Hans-Herrmann Rathjens verstand es, jeden Prozess zu einem Streit um Sein oder Nichtsein zu machen. Zum Glück hatte der Präsident, geleitet von einem Rest Weisheit, zum heutigen Termin die Parteien selbst nicht geladen.
Die Tür ging auf, denn die eingeplante Stunde war um, der nächste Termin stand an und die Kollegen Spindelhirn und Albert betraten den Saal.
Albert zwinkerte Schlüter konspirativ zu und führte pantomimisch eine Tasse zum Mund. Ob sie hinterher Kaffee trinken gehen würden? Schlüter zuckte ergeben mit den Schultern: Weiß noch nicht.
Endlich war der Präsident mit Meier-Mertes fertig, dem inzwischen über beiden Ohren der Kiebitzkopf hüpfte. Schlüter hatte gehofft, dass der Präsident keine weiteren Aufklärungsfragen an ihn selbst habe, aber vergebens.
»Herr Rechtsanwalt Schlüter, ist es richtig, dass es sich bei der Grabstätte um eine Familiengrabstätte handelt, das heißt also, dass noch andere dort beerdigt sind als die Mutter der Parteien?«
Was sollte man sagen? Sagte man etwas, versuchte der Präsident, das aufzunehmen, und der unsägliche Kampf mit dem Diktiergerät begann von Neuem. Sagte man nichts, warf er einem später womöglich lückenhaften Vortrag vor.
Bevor Schlüter zu Ende überlegen konnte, sagte Meier-Mertes: »Der Vater der Parteien ist dort beerdigt, Herr Vorsitzender, und eine früh verstorbene Schwester des Vaters. Bei beiden ist die Belegungsfrist abgelaufen. Die Klägerinnen haben die Grabstelle neu gekauft. Das ist allein das Privatvergnügen der Klägerinnen! Der Beklagte sieht nicht ein, wieso er diese Gräber mit bezahlen soll!«
Einer der am häufigsten in Prozessdingen geäußerten Sätze. Man führte Prozesse nicht, weil man Ungeklärtes klären wollte, sondern weil man Einsichtiges nicht einsehen wollte.
Der Präsident zögerte. Sollte er das aufnehmen oder nicht?
Schlüter sagte schnell: »Ich beziehe mich hier auf meinen schriftsätzlichen Vortrag!«
»Das haben Sie vorgetragen?«, zweifelte der Präsident.
»Ja, Herr Vorsitzender!«, bestätigte Schlüter fest, zog den Stein aus der Tasche und legte ihn sanft auf den Tisch. Kleinigkeiten, alles Kleinigkeiten.
»Und wo, wenn ich fragen darf?«
Schlüter klappte demonstrativ seine Akte zu. »Es ist vorgetragen, Herr Vorsitzender, ich versichere es.« Er legte beide Hände um den Stein, wärmte ihn, drehte ihn und setzte hinzu: »Der Zivilprozess ist ein schriftliches Verfahren, ich bin nicht verpflichtet, meinen Vortrag in der mündlichen Verhandlung zu wiederholen. Ich möchte jetzt meinen Prozessantrag stellen!«
Das saß.
Die Erörterung der Sach- und Rechtslage war endgültig abgeschlossen.
»Der Kläger stellt seinen Antrag aus dem Schriftsatz vom 10. Oktober 1994, der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen«, diktierte der Präsident erstaunlich geläufig. Dann konsultierte er einen winzigen Taschenkalender, der in seiner hohlen Hand verschwand, und machte mit einem dünnen Bleistift, wahrscheinlich eine Spezialanfertigung, eine Notiz, ergriff das Diktiergerät und deklamierte: »Termin zur Verkündung einer Entscheidung am 27. Februar 1995, Zimmer 118, 12 Uhr.« Jeweils ein Blick und Nicken.
»Wahrscheinlich ein Beweisbeschluss«, erläuterte der Präsident. »Den hätte ich seinem wesentlichen Inhalt nach auch gleich verkünden können, aber die Zeit drängt. Mal sehen, was ich mache. Es wird wohl ein Gutachten geben.«
Schlüter grauste es. Ein Gutachten zur Frage der ortsüblichen Größe von Grabsteinen!
Plötzlich schwoll die Stimme des Präsidenten an: »Achtung! Achtung! An die Kanzlei!! Ende dieser Sache! Ende dieses Diktats!!! – Ende!! Ende!!! – Ende !!!!«
Dann betätigte er den Knopf, der das Aufnahmegerät zum Stillstand brachte, nahm die Tonbandkassette heraus, steckte sie in die Schachtel und heftete diese auf die Akte Elfers und von Allwörden gegen Rathjens.
Schlüter stand auf und nahm seinen Stein vom Tisch, wog ihn in der Hand.
»Noch mal wegen Clever, Herr Schlüter«, hielt der Präsident ihn fest. »Kann ich Sie beiordnen? Verfahren nach PsychKG.«
Schlüter überlegte nicht lange: »Ja, natürlich.«
Der Präsident zog seinen Bonsai-Kalender hervor und lugte über den Brillenrand hinweg hinein. »Haben Sie Montag Zeit, gleich morgens um
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