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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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theoretische Amoklauf war das Übliche nach einem verlorenen Prozess; Amoklauf war in Mode gekommen, nicht nur in Palästina. Männer, die ihre eigene Familie ausrotteten, aber nicht den Mumm hatten, sich selbst umzubringen. Hin und wieder war auch einer dazwischen, der den bösen Richter im Gericht erschoss oder wenigstens mit dem Bagger bis in die Eingangshalle fuhr. Offenbar war auch Heribert Witt ein Pulverfass und wartete auf die richtige Gelegenheit zur Explosion. Man wusste nie, ob die Leute ernst machen würden; eigentlich müsste ich bei der Kripo eine Liste hinterlegen, in die ich meine Amokläufer eintragen kann. Aber solange noch nichts passiert ist … Die Welt war voller Michael Kohlhase, aber sie kümmerten sich nur noch um ihre eigene mickrige Gerechtigkeit. Schlüter hörte sich die Massakerpläne emotionslos an und am Ende schlug er dem Bauunternehmer vor, Schlüter anzurufen, bevor er seinen Amoklauf beginnen würde. Man würde das vorher besprechen.
    »Na gut«, versprach das Mardergesicht weinerlich und tastete nach den Zigaretten in der Brusttasche. »Werd ich machen.«

    »Wird schon nicht so schlimm werden«, tröstete Schlüter. »Am Leben bleiben wir immer. Und in Mitteleuropa verhungern wir nicht. Das gibt mit Sicherheit keinen Knast. Nur Geldstrafe. Wie hoch, das hängt davon ab, wie lange Sie den Mann beschäftigt und wie viel Sie mit ihm verdient haben. Und wegen der Steuern fragen Sie Ihren Steuerberater. Alles endet damit, dass Sie bezahlen müssen. Geld. Mehr nicht. Okay?«
    Und dann hatten sie verabredet, dass Schlüter Witts Ermittlungsakte anfordern würde und sie die Einzelheiten berieten, sobald er die Akte vorliegen habe.
    »Beschäftigen Sie noch andere Leute als den – wie hieß er noch gleich?«, fragte Schlüter.
    »Keine Ahnung. Ich kann mir die Namen von denen nicht merken. Die hören sich irgendwie alle gleich an. Ich glaube, Murat heißt der. Oder so ähnlich. Er war der letzte Türke, den ich noch hatte.«
    »Sonst keine Ausländer?«
    »Na ja«, wand sich Witt auf dem Stuhl. »Jetzt sind es Polen, eine Truppe von fünf Mann. Gewaltig schlagkräftig, sage ich Ihnen. Die können aus ’nem krummen Nagel noch was machen. Die können alles. Mit denen …«
    »Aufhören!!«, unterbrach Schlüter. »Sofort damit aufhören! Sie stehen doch jetzt unter Beobachtung, Mann! Die Grünen warten doch nur auf so was bei Ihnen. Wollen Sie denen etwa einen Gefallen tun?!«
    »Schon klar, Herr Rechtsanwalt«, murmelte Witt. Inzwischen hielt er nervös die Zigarettenschachtel in der Hand. »Ich danke Ihnen, ich bin ein bisschen erleichtert jetzt.«
    Sie waren aufgestanden und hatten sich die Hand gegeben. Und zuletzt, an der Tür, Witt hatte seine Zigarettenschachtel zurück in die Brusttasche geschoben, hatte er gefragt, ob er die Toilette benutzen dürfe.
    Schlüter nahm sein Diktiergerät und diktierte den Akteneinsichtsantrag ab. Komische Geschichte, die Witt da von dem Schloss und dem Wasserschaden erzählt hatte, dachte er. Nur – was sollte er damit anfangen? Man war Mülleimer und ließ sich vollwerfen.

21.
    Seit Vulgo Hohlmeier, ehemals Vorsitzender der 3. Strafkammer, in die Zivilabteilung gewechselt war und Schlüter keine Strafsachen mehr machte, erlebte Schlüter richtig schlechte Tage nur noch, wenn er Termin beim Präsidenten hatte, bei dem Amtsgerichtsdirektor von Hauff, der ›Präsident‹ genannt wurde, weil er übertriebenen Wert darauf legte, als ›Direktor‹ tituliert zu werden. Zum Leidwesen der Hemmstedter Justiz war er aus Eisleben zurückgekehrt, die schöne Zeit ohne ihn war viel zu schnell vergangen. Der Präsident walzte seine schmalen Zivilakten aus zu einem dünnen Teig, seine Verhandlungen verkleisterten und verdarben den besten Teil des Vormittags. Der Präsident genoss das Privileg der Langsamkeit, er hatte ein schmales Dezernat, und das war gut, denn sonst hätten die Mühlen der Gerechtigkeit in Hemmstedt nicht langsam, sondern überhaupt nicht mehr gemahlen.
    Wenn Schlüter Termine beim Präsidenten hatte, meditierte er sich vorweg mit einer guten Tasse ostfriesischem Tee hinauf zu großer Geduld, schwor sich Selbstbeherrschung und Kontrolle über natürliche Regungen und verließ sein Büro mit dem langsamen Herzschlag eines Frosches im Winterschlaf. Er legte, die alte Tasche unterm Arm, den kurzen Weg durch die Fußgängerzone zum Gericht zurück.
    Es war neblig und der Himmel über den Giebeln der Fachwerkhäuser so eng und niedrig wie das

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