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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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Leben in dieser müden Beamtenstadt, in der die Schwedenwoche das größte Ereignis des Jahres war. Den Völkermordstein, wie er ihn für sich nannte, trug Schlüter wie immer in der Tasche; irgendwie fühlte er sich verpflichtet, ihn stellvertretend für Veli Adaman stets bei sich zu haben, bis er ihn zurückgeben würde. Er steuerte durch die schmale Gasse, die – leicht abschüssig – auf die St. Wulfhardi-Kirche zuführte, an ihr vorbei zum Gericht, einem Sandsteinbau aus bismarckscher Zeit, als man die Gerechtigkeit dem Volke mit Teelöffeln gab wie ein Almosen. Daneben befand sich der Eingang zur Justizvollzugsanstalt, frisch renoviert und friedlich bewacht von einer großen Linde, und gegenüber das Selbsthilfezentrum für psychisch Kranke. Zwei Orte, an denen die Weltordnung neu definiert wurde. Was hatte Havelack, sein alter Freund, damals gesagt? Verrückte und Verbrecher bringen die Welt voran, nicht wir Handwerker. Sie hatten sich zuletzt im Kultureum gesehen, anlässlich des Konzerts, und das war jetzt mehr als drei Monate her. Verbrecher, Völkermordverbrecher …
    Schlüter umrundete das Hauptgebäude, gelangte auf den mit alten Klinkern gepflasterten Hinterhof und stieß die Tür zum Nebengebäude auf, die so morsch und schief war, als hinge sie vor einem Hühnerstall. Vom Glockenturm der Kirche schlug es halb zehn. Im Kellerabgang standen zwei hochwertige Fahrräder, vermutlich das Eigentum ökologisch korrekter Justizbeamter. Müde schepperte die Tür hinter Schlüter zu. Im Treppenhaus roch es nach dem Staub alter Akten, Bohnerwachs, Zeugenschweiß und Fehlurteilen.
    Schlüter stieg auf in den zweiten Stock, vorbei an zahlreichen Türen, hinter denen Schreibmaschinen klapperten, Offenbarungseide erklärt, Mahnbescheide gefertigt und Beförderungen geduldig abgewartet wurden. Das ferne Simmern und Klacken eines Kopierers, welliger Linoleumboden, auf den Fluren giftgrün gekachelte Waschbecken, an denen sich seit Hindenburg keiner mehr gewaschen hatte. Man hatte vergessen, sie abzureißen, und nun war es zu spät, denn sie standen unter Denkmalschutz und würden noch vielen Generationen den Geschmack verderben. Das Nebengebäude, das den zivilen Streit, Hass und Zank des Bezirks in metallenen Hängeregistraturen beherbergte, hatte das morbide Flair der Vorkriegszeit, wie man es sonst nur noch in den Revieren Ostbrandenburgs fand.
    Natürlich war der Präsident noch nicht da. Aber der Kollege Meier-Mertes wartete schon, mit den Händen auf dem Rücken arrogante Kreise drehend. Sie begrüßten sich förmlich und schwiegen sich an, sie hatten einander nichts zu sagen. Über die aktuellen Streitereien, die sie verbanden, wollte Schlüter nicht reden und ansonsten gab es keine Überschneidungen ihrer Weltkreise. Meier-Mertes hatte ein graues Gesicht, lang wie das eines Esels, mit tiefen Kerben, die ihm wahrscheinlich die Unterhaltspflicht gegraben hatte, für drei Ehefrauen – zwei geschiedene, eine aktuelle – und sieben Kinder, darunter ein Kuckuckskind, dessen leiblichen Vater Meier-Mertes zu spät auf die Vaterschaftsanfechtungsfrist hingewiesen hatte. Advokaten konnten nicht nur für leibliche, sondern auch für Prozesskinder unterhaltspflichtig werden.
    Unten knarzte die Treppe. Schlüter beugte sich über das Geländer, in der Hoffnung, es wäre ein anderer, der käme, um zu berichten, der Präsident sei krank und der Termin fiele aus. Aber nein. So viel Glück konnte kein Tag bieten. Die Schultern des Präsidenten wankten bei jeder Stufe hin und her unter dem Gewicht der Welt, und unter dem Arm trug er drei mickrige dünne Akten, über die er heute verhandeln würde, ohne jede Scham. Wie immer hatte er einen altmodischen dunklen Anzug an, der um den Bauch herum Klemmfalten warf, und schwarze Bauernstiefel, die gleichermaßen für Beerdigungen, das Schieben von Torfkarren und die Rechtsprechung zugelassen waren. Die unordentlich über den Arm gehängte Robe wirkte demgegenüber aufreizend lässig.
    Oben angekommen, nickte sein fleischiger Schädel den beiden Advokaten ernst und wortlos zu, was diese ebenso erwiderten – Meier-Mertes natürlich zackiger als Schlüter. Umständlich machte sich der Präsident an der Tür zu schaffen, bückte sich und streckte seinen breiten Juristensteiß, über dem sich sein Jackett unanständig spreizte und einen verdrehten Gürtel sehen ließ.
    »Sie kennen doch den Clever, nicht?«, grummelte der Präsident ins Schlüsselloch, während sein Steiß Halbkreise

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