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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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Engelsmoor. Altenmoor gehört zu Moorende und Engelsmoor zu Hollenfleth. Auf beiden Seiten Büsche und Bäume, Birken und Brombeeren, im Dunkeln ist es schwer, die Stelle zu finden, an der du abbiegen musst, zurück zur Moorstraße, um zum Apfelhof von Holthusen zu gelangen. Den siehst du von der Scheidung aus noch nicht. Es ist eine Weide dazwischen, ungefähr fünfzig Meter breit, die musst du überqueren. An einer Stelle stößt ein Birkenwald an die Scheidung, dort steigst du über den Graben, der ist breit und tief ausgebaggert, weil der dicke Bösch einen eigenen Bagger hat und jeden Winter damit unterwegs ist. Wie ein Teichhuhn sieht er aus, der Bösch, weißt du, wie ein Teichhuhn aussieht, nein? Dann sieh dir den Bösch an: roter Kopf, kein Hals, dicker Bauch, lange, staksige, mickrige Beine und große Füße. Er geht auch so zögernd und vorsichtig mit seinen Spreizfüßen. Irgendwann platzt dem noch mal der Wanst. Jedenfalls folgst du dem Birkenwald, ungefähr hundert Schritte, am anderen Ende grenzt er an den Apfelhof von Holthusen. Pass auf, dass du nicht in eins von seinen Wasserbecken fällst, du kannst ja nicht schwimmen. Leute? Nie bin ich jemandem abends auf dieser Strecke begegnet. Wer geht schon spazieren in dieser Gegend, wo man nach ein paar Metern zwei Kilo Dreck an jedem Fuß hat? Wieso muss es dunkel sein? Wieso gehst du nicht etwas früher los, es wird dich schon niemand sehen, und wenn schon? Warum soll nicht einer wie du auch mal da hinten spazieren gehen? Wenn du Angst hast, bleib lieber hier. Er kann doch mal hier vorbeikommen!«

    Aber das konnte Veli Adaman nicht, Heyder Cengi wurde gesucht und musste fürchten, dass die Polizei über Adamans Wege wachte. Die Polizei kannte die illegalen Türken natürlich und wusste oft auch, wo sie wohnten, unternahm aber nichts gegen sie, solange sie keine Schwierigkeiten machten. Nach diesen mehr als zwei Monaten allein mit dem Bauern hatte er das Gefühl zu vertrocknen ohne die Stimme seines Onkels.
    Während Heyder Cengi fast lautlos über den federnden Moorboden lief, dachte er über ihre letzte Begegnung nach. Nur einmal hatte Adaman nach Cengis Umzug zu Heinsohn seinen Neffen besucht, im Dunkeln, an einem der ersten Tage des Januar. Er war einfach ins Haus gekommen, hatte Heinsohn gefragt, wo Cengi stecke, um ihn dann in seiner Kammer im Obergeschoss des Hauses aufzusuchen. Anschließend waren sie hinunter in Heinsohns Küche gegangen, um Tee zu kochen. Heinsohn hatte sich verkrümelt. Den ersten gemeinsamen Tee seit langer Zeit, am großen Esstisch. Eine Stunde war Adaman geblieben, er hatte die Vollmacht für den Rechtsanwalt Schlüter zum Unterschreiben mitgebracht, und dann hatte er von dem Buch erzählt, das er gestern im Schloss gesehen hatte. Dass er versuchen wolle, sich dieses Buch zu verschaffen. Damit er die Muttersprache besser verstehen könne. Die Grammatik sei darin erklärt, ein herrliches Buch. Seine Augen leuchteten, während er sprach.
    Dann hatte Adaman über ihre Religion gesprochen. Ein Alevit verbarg seine Religion, er sprach mit niemandem darüber, der anderen Glaubens war, und in vielen Dörfern des Ostens ging er sogar zum Schein in die Moschee. Im Dersim gab es keine Moscheen und keine Sunniten, deshalb hatten sie dort ein freies Leben geführt. Nur im Geheimen waren die Lehren weitergegeben worden, vom Vater zum Sohn, von der Mutter zur Tochter, seit siebenhundert Jahren. So hatten sie sich, so gut es ging, vor der Verfolgung durch die Sunniten geschützt. Damit, verlangte Adaman, müsse endlich Schluss sein. Spätestens seit den Ereignissen von Sivas, von denen jeder Alevit in der Türkei erfahren habe, sei klar, dass takiye, der Glaube in der Verborgenheit, nicht mehr zeitgemäß sei. Man müsse sagen, was man glaube.

    »So wie du es den Leuten von der PKK gesagt hast?«, fragte Cengi.
    Adaman nickte düster. »Ja«, sagte er. »Man fragt sich, wer am schlimmsten ist, die Leute von der PKK, dieser Werner Söhl, der um meine Fenster schleicht – oder die anderen.«
    »Welche anderen?«, hatte Cengi gefragt.
    Es war, als sei Adaman nicht nur gekommen, um Cengi die Vollmacht unterschreiben zu lassen, sondern auch, um ihm das andere zu erzählen.
    »Ich habe einen von ihnen gesehen«, hatte Adaman plötzlich gesagt. »In Hemmstedt. Nachdem ich bei dem Rechtsanwalt gewesen bin. In dem Dönerladen in der Fußgängerzone. Der Mann war einer von denen, die in das Hotel eingedrungen sind, durch das zerschlagene Fenster.

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