Paragraf 301
8.30 Uhr? Das ist der 6. Februar. Anhörung im Krankenhaus. Mit dem Chef der Psychiatrie habe ich schon gesprochen.«
»Wo?«, fragte Schlüter nur.
»Haupteingang. Wir gehen dann zusammen rein.«
Schlüter nickte. Falls er schon Termine hatte, würde er sie eben verschieben.
»Was haben Sie da für einen Stein?«, fragte der Präsident plötzlich.
»Das ist ein Völkermordstein«, erklärte Schlüter.
»Ein was?«
»Ein Völkermordstein. Ein Stein, der Zeuge eines Völkermordes gewesen ist.«
Das Gesicht des Präsidenten nahm einen mitleidigen Zug an. »Wir sehen uns Montag in der Psychiatrie«, sagte er.
Spindelhirn schwankte zum Beklagtenplatz, den Meier-Mertes gerade räumte.
Kollege Albert hatte den Wortwechsel verfolgt. »Und wo haben Sie den her?«, fragte er Schlüter.
»Wir streiten uns hier um dämliche Grabstellen«, murmelte der, während er den Stein in der Hand drehte. »Und andernorts liegen die Knochen der Ermordeten in Sonne und Wind. Wir haben Probleme!«
Er stopfte den Stein wieder in sein Jackett und ließ die anderen verdutzt zurück. Mit langen Blicken folgten sie Schlüter, der, in Gedanken versunken, den Gerichtssaal verließ, ohne die Tür hinter sich zu schließen.
Die Kaffeeverabredung mit Albert hatte Schlüter vergessen. Während er die beiden Stockwerke nach unten ging, erschien Paul Clever vor seinem inneren Auge: der lange dünne Bursche, der vom Alkohol nicht lassen konnte und einbrechen ging, um die Beute seiner jeweiligen Liebsten zu schenken.
Draußen war es ungemütlich neblig, immer noch, aber wenigstens war die Luft frisch. Wie immer, wenn er das Gerichtsgebäude verließ, atmete Schlüter auf.
22.
Düstre Wolkenfeudel wischten die letzten Blutflecken vom westlichen Horizont, auf den Pfützen erlosch ihr rötlicher Widerschein, der Wind wurde schwächer und starb, die Vögel suchten ihre Quartiere auf und schwiegen und dann kam auf leisen Sohlen die Nacht. Er hatte sich immer noch nicht daran gewöhnen können, wie lang hier die Dämmerung dauerte.
Noch kein Stern. Er lief weiter. Der Himmel hatte sich nun ganz bezogen, er war niedrig wie die Stirn eines Dummen und bedrückte das dunkle Land, es schien eng wie die Kammer, in der er jetzt immer schlief, in der zuletzt die verstorbene Schwester des Bauern gewohnt hatte. Es gab keine Berge, auf die man steigen konnte, um den Sternen näher zu sein und Übersicht zu gewinnen, keine Täler, denen man folgen konnte, keine Bäche, die durch ihr Plätschern und Murmeln verrieten, auf welcher Seite des Tales man sich befand, und keine Steine, an deren Moos man fühlen konnte, in welcher Richtung Norden war. Hier in der Elbmarsch gab es nur endlose Weiden und Äcker, flach wie ein Brett, über die tags ein eintöniger Wind strich und nachts tote Stille herrschte. In der Nacht war man verloren in der Marsch.
Aber die Wegbeschreibung war genau. Hinter dem Hof die Weide hoch, am matschigen Kuhpfad entlang. Am Ende der ersten Länge über das Gatter klettern, »da warst du schön öfter. Dann bist du im Moor, von da ab kannst du dich an den Entwässerungsgräben orientieren.« Keine Äcker, nur noch bucklige Weiden, und an den Gräben wuchsen immerhin Büsche und Binsen. Auf dem Vorgewende der zweiten Länge fünf Stücke nach rechts bis zum ersten Graben. Tastende Schritte. Unter dem Stacheldraht durch und hinüber. Der Graben war nicht breit, aber sein zögernder Schritt traf ins Nasse; er hielt sich am Ufergras fest und zog sich an der Böschung hoch, holte sich schmierige Knie. Dann wieder unter dem Draht durch. Drei Stücke weiter bis zum zweiten Graben. Wenn du den überquert hast, bist du auf dem Gelände des Torfwerks. An seinem Rand entlang kannst du bis zur Scheidung gehen. Der nackte Torf federte unter seinen Füßen, schwarz und drohend setzten sich die aufgeschütteten Torfmieten gegen den dunklen Nachthimmel ab. Es war also doch nicht völlig finster.
Er lief an diesem Abend des 3. Februar, bis seine Füße eine Steigung fühlten, oben stieß er auf die harten Schienen der Lorenbahn. Diesen nach rechts folgen, bis sie nach links abknicken, dort geradeaus. Ein zweites Gatter, ein eisernes. Dort ist der Torfabbau zu Ende. Manchmal ist das sogar auf, aber du kannst immer drüberklettern.
Die Scheidung macht dann nach fünfhundert Metern einen Knick nach rechts.
»Und dann wird es schwierig, Junge. Du gehst auf einem schmalen Streifen erhöhten Landes, das ist die alte Wasserscheide zwischen Altenmoor und
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