Paragraf 301
Ich habe gesehen, wie er die Möbel und die Vorhänge hinausgeworfen hat, wie man sie draußen in Brand gesetzt hat, wie man sie zurückgeschleudert hat. Im Flur sind wir fast ineinander gelaufen. Er hatte einen Kanister in der Hand. Plötzlich stand er vor mir.«
Cengi hatte den Atem angehalten. »Du warst in Sivas dabei?«
»Ja«, murmelte Adaman. »Habe ich das nicht erzählt?«
»Nein – nein!«
»Viele sind umgekommen«, flüsterte Adaman. »Gute Menschen sind verbrannt. Ich höre ihre Schreie. Ich kenne ihre Namen, jeden von ihnen. So viele. Ich kenne ihre Lieder, ihre Gedichte. Wir dürfen nicht länger in der Verborgenheit leben, weißt du? Wir müssen die Zeit der Verborgenheit beenden. Wir müssen endlich sagen, wer wir sind! Wie soll man uns verstehen, wenn man nichts von uns weiß?« Er knöpfte sich das Hemd wieder auf und holte das kleine Schwert hervor, das Schwert Alis, mit dem sich ein Alevit dem andern zu erkennen gab. Er erzählte, wie er und die anderen Teilnehmer des alevitischen Kulturtreffens aus dem Foyer des Madımak, in dem sie gemeinsam gesessen hatten auf den schafledernen Sesseln, nach oben geflüchtet waren, in den niedrigen Frühstücksraum, von dem man hinunter ins Foyer und hinaus auf die Straße sehen konnte, auf die brüllende Masse Mensch. Als unten die Scheiben eingeschlagen wurden, flüchteten sie weiter nach oben, hinein in die Falle, denn als es später brannte und der Rauch hochstieg, gab es von dort keine Rückkehr mehr. Er, Veli Adaman, war den anderen nicht gefolgt, sondern in sein Zimmer zurückgekehrt, Zimmer 106 im ersten Stock, das Eckzimmer, und von dort aus dem Fenster hatte er Osman gesehen, den Englischlehrer von nebenan, wie er, eng an die Wand des Restaurants gegenüber gepresst, seltsam steif und die Arme verschränkt, mit aufgerissenen Augen Zeuge des Wahnsinns war. Veli drückte verzweifelt das Fenster auf, Osman entdeckte ihn, löste sich von der Wand und brüllte mit erhobenen Armen: »He, Leute, da oben ist ein Unschuldiger, ich kenne ihn, er ist ein guter Muslim, er muss da raus, helft ihm!« Osman kämpfte sich durch das Gedränge, brüllte immerfort: »So helft ihm doch!«, der dort oben sei ein guter Muslim, man müsse ihn retten, er sei neulich mit ihm in der Ulu Camii gewesen, und tatsächlich bildete sich eine Gasse, man ließ ihn durch, ja, manche riefen selbst: »So helft doch!«
Adaman war aus dem Fenster geklettert, die Fäuste, die Köpfe, die schreienden Münder unter sich, hinunter auf das rostige Gestänge, an dem die Reklame befestigt war, und von dort auf das Vordach über dem Eingang, von wo ihn Osman und zwanzig ausgestreckte Arme auffingen, denn die Leute konnten nicht nur durchdrehen, erhitzt von den Tiraden des Imam, sondern tatsächlich auch sehr hilfreich sein.
Osman hatte ihn eingehakt, wie es die Männer in Sivas tun, wenn sie abends miteinander spazieren gehen, gegen den Strom der Masse, auf dem geborstenen Bürgersteig entlang, vorbei an der Bank und hinein in den übernächsten Hauseingang. »Welch eine Schande, welch eine Schande!«, hatte Osman immer wieder verzweifelt gemurmelt und den Kopf geschüttelt, während sie hinaufstiegen in den dritten Stock des Hauses, um aus dem Fenster seines verräucherten Büros das weitere Geschehen bis zu seinem bösen Ende zu verfolgen.
Er, Veli Adaman, hatte den Anblick der schreienden Menschen jedoch nicht ertragen, er war im Flur hin- und hergerannt wie ein Tiger im Käfig, unter dem Konterfei des großen Atatürk und dem Spruch Glücklich ist, wer sich ein Türke nennen kann. Veli Adaman war kein Türke, er war ein Dersimi aus dem Dersim, ein Zaza, den die Türken als Türken und die Kurden als Kurden für sich beanspruchten. Als der Höllengeruch verbrannten Menschenfleisches von Osmans offenem Fenster in seine Nase drang, hatte er sich im rückwärtigen Büro in einen der Ledersessel geworfen und sich Augen und Ohren zugehalten.
»Warum hast du mir das nie erzählt, dass du dabei warst?«, wollte Cengi wissen.
Adaman zuckte mit den Schultern. »Was hätte es dir genützt, wenn ich es dir erzählt hätte?«
»Und was hat er gesagt?«
»Wer?«
»Der Brandstifter, als du ihm im Gang begegnet bist.«
Adaman zögerte. »Nicht viel«, sagte er schließlich. »Nur: Stirb, Rotkopf!«
»Hat er dich erkannt?«, fragte Cengi.
»Hier in Hemmstedt?«
»Ja.«
»Das habe ich mich auch gefragt«, antwortete Adaman. »Aber ich weiß es nicht. Wir standen wieder voreinander. Zum
Weitere Kostenlose Bücher