Paragraf 301
hatte den Schleier vor sein warziges Gesicht gezogen.
Cengi hatte die Lorengleise erreicht und folgte ihnen, fand das Gatter, stieg darüber und lief weiter. Er hielt sich immer hart rechts an den Büschen, um den Wald nicht zu verpassen. Er durchquerte Böschs tiefen Graben, dabei verfing er sich an einer Brombeerranke und riss sich die Hand auf, versank mit dem linken Fuß tief im Wasser, folgte dem Wald auf der Weide daneben. Aus dem dunklen Blätterdach tropfte es ihm in den Kragen. Endlich der Apfelhof. Wenn man in einen Apfelhof geriet, war man gefangen in einem Irrgarten, zwischen buckligen Trollen, die ihre verrenkten Glieder ins Dunkle streckten.
»Du musst dich an die dritte Reihe von links halten, wenn du dort entlang gehst, dann triffst du irgendwann auf das Haus.«
Endlich ein düstrer Haufe vor ihm. Das war der Schuppen, in dem Söhl seine Schweine hielt. Heyder Cengi schlich an der Wand entlang, mit den Fingerspitzen die rissigen Bretter streifend, durch die ein mörderischer Gestank drang. Drinnen grunzte es leise.
Ein schwacher Schein drang aus einem der Fenster des Wohnhauses. Das war Velis Fenster. Der Rest lag in tiefem Dunkel. Es roch nach Rauch. Die Gardine war zugezogen. Cengi klopfte an die Tür. Keine Antwort. Er klopfte lauter. Immer noch keine Antwort. Zögernd drückte er die Klinke herunter. Die Tür gab nach und öffnete sich.
Das Licht der Lampe fiel auf ein längliches Bündel vor dem Ofen. Cengi wusste sofort, dass das kein lebendiger Mensch war, sondern der verdrehte Leib eines Erschlagenen, das kalte Gesicht auf dem nackten Fliesenboden. Drei Schritte, Cengi kniete nieder.
»Xal Veli«, flüsterte er. »Xal Veli, was ist mit dir?«
Veli Adaman antwortete nicht. Sein Kopf, seine Haare waren klumpig von Blut und Hirn.
»Ezane – Heyder … Ich bin Heyder …«
Veli schwieg. Sinnlose Worte. Cengi drehte den Onkel auf den Rücken, der Arm schlenkerte herum, die Hand platschte auf den Boden und Velis tote Augen starrten zur Decke. Langsam löste Cengi seine Hände vom Kopf seines Onkels. Blut und Hirn. Mechanisch stand er auf. Ging zur Spüle. Wusch sich. Kehrte zum Toten zurück. Kniete wieder nieder, drückte seinem Onkel die Augen zu.
Wer hatte den friedfertigen Veli erschlagen?
Cengi konnte nichts tun, außer die Tür zu öffnen, damit es die Seele leichter hatte, den Raum zu verlassen und in die Ewigkeit einzugehen.
»Heiliger Hızır, steh ihm bei«, flüsterte Cengi und wollte aufstehen.
Der Schlag traf ihn links an der Schläfe.
In seinem Bewusstsein blitzte es grell auf, er fühlte keinen Schmerz, und das Letzte, was er sah, bevor er in die Dunkelheit stürzte, war die geflickte Spitze eines schmutzigen Gummistiefels.
23.
Am Samstagmorgen wollte Bauer Heinsohn melken und stellte fest, dass sein Mitarbeiter, der sonst immer vor dem Stall auf ihn wartete, nicht zu sehen war. Der Gedanke, Cengi könnte ebenso plötzlich verschwunden sein, wie er aufgetaucht war, versetzte Heinsohn in Panik. Er hatte sich an den Mann gewöhnt, mit dem er seit mehr als zwei Monaten Arbeit und Alltag teilte.
Er musste Gewissheit haben.
Heinsohn machte vor dem Melkstand kehrt und hinkte, so schnell sein geschwollener Knöchel ihm das erlaubte, zurück zum Wohnhaus, in dessen Obergeschoss er Cengi eine ungeheizte Kammer als Quartier zugewiesen hatte, während er selbst weiter im Erdgeschoss im Schlafzimmer neben der Küche hauste.
Vor der Treppe der erste Blutstropfen. Er musste ihn vorhin übersehen haben. In seinem Kopf erhob sich ein Sausen. Tropfen auf Tropfen führte die Spur die Treppe hinauf, zu Cengis Kammer. Die Tür war zu. Das Sausen in Heinsohns Kopf verstärkte sich zu dem lauten Heulen eines Kreiselmähers bei Vollgas. Er holte tief Luft und zog die Tür auf.
Sein Blick fiel auf das Bett. Ein blutiger Klumpen zuckte, dort, wo das Kopfende war …
»Neiiiin!!«, brüllte Heinsohn und stürzte davon. »Hilfe, Hilfe, Lars ist …«, rasselte die Treppe herunter, dunkle Schwaden waberten vor seinen Augen, im Schlafzimmer, was er dort wollte, wusste er nicht, lehnte er sich an die Wand, ließ sich herunterrutschen, verlor die Besinnung und schlug mit dem Kopf auf die Holzdielen auf.
Wie war er das zweite Mal in Cengis Zimmer gekommen? Diesmal lief er nicht fort, aber wieder wurde ihm schwindlig und schwarz vor Augen. Dann musste er kotzen und erledigte das im Flur, unter dem Heulen und Sirren des Kreiselmähers, er würgte grünen Schleim, denn er hatte noch nichts
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