Paragraf 301
zweiten Mal. Man begegnet sich immer zwei Mal im Leben, sagen sie hier. Er sah mir in die Augen, ganz kurz. Aber er hat nichts gesagt. Erkannt? Ich habe ihm nichts angemerkt. Ich weiß es nicht.«
»Und wenn er dich doch erkannt hat?«
»Dann hat er Angst«, stellte Adaman fest. »Fünf von den Brandstiftern sind nach Deutschland geflohen, sagen unsere Leute in Hamburg. Zwei von ihnen sollen schon Asyl bekommen haben, vielleicht ist der Mann einer von den beiden.«
»Asyl?«, rief Cengi und sprang auf. »Das sagst du so ruhig?! Die kriegen hier Asyl?! Und wir? Hast du gar keine Angst?«
Adaman blieb ruhig. »Du meinst, weil ich ihn verraten könnte und er dann seine Rechte in Deutschland verliert?«
»Was sonst?«, gab Cengi zurück. »Du solltest vorsichtig sein. Wenn er dich erkannt hat, dann weiß er auch, wie gefährlich du für ihn bist, und dann wird er versuchen …«
»Wie soll er mich finden?«, hatte Adaman leise gefragt.
Cengi hatte die Vollmacht unterschrieben, und Adaman war wieder fort.
Wenig später war Heinsohn aufgetaucht. Kein Wort hatte er über den Besucher verloren. Trotzdem war er gesprächiger geworden, er redete sich aus seiner Einsamkeit heraus und stieß Cengi tiefer in seine hinein. Hauptsächlich schimpfte der Bauer über seine Zeitgenossen. Alle waren bekloppt. Heinsohn pflegte auf seinem Strohballen unter der Scheunentür zu sitzen wie auf einem Richtstuhl und über alle und alles zu schimpfen. Wie konnte Heinsohn in einer derartigen Einsamkeit und selbst gewählten Isolation sein Leben fristen? Er brauchte wohl niemanden. Dem Postboten, der auch zu den Bekloppten gehörte, weil sie bei der Post ja alle faul waren, nickte Heinsohn von Weitem sparsam zu, dem Milchwagenfahrer, der jeden zweiten Tag den Tank leer pumpte und nicht ganz dicht war, denn er roch morgens schon nach Alkohol, sagte er nur Moin und Tschüs, und alle vier Wochen erduldete Heinsohn den Milchkontrolleur, der der Bekloppteste von allen war, weil er Biolandwirtschaft gut fand. Die Nachbarn waren sowieso bekloppt, nicht nur der geizige Quast, der seine Frau schlug, sondern auch Söhl, von dem alle wüssten, dass er pervers sei. Der Tierarzt war bekloppt, weil er Heinsohn nach den Beschwerden der Kühe ausfragte, anstatt sie zu untersuchen, und sogar die Kühe waren bekloppt, weil sie dem Tierarzt nichts erzählen konnten.
Immerhin schlug Heinsohn seine Kühe nicht mehr. Cengi war einmal wortlos daneben stehen geblieben, als Heinsohn in blinder Wut auf eine widerspenstige Kuh mit einem Knüppel eingedroschen hatte. Seitdem nahm sich Heinsohn zusammen.
Wie konnte dieser Mensch so leben? Veli hatte erzählt, dass Heinsohn einmal Frau und Kinder gehabt habe, drei sogar, zwei Töchter und einen Sohn. Eine der Töchter hatte sich eines Tages zu Fuß von der Straße her dem Hof genähert, zusammen mit einem großen jungen Mann, aber Heinsohn hatte schon von Weitem gebrüllt: »Haut ab. Ich brauch euch nicht!!« Seitdem ließ sich keiner mehr blicken von der bekloppten Familie.
Ungefähr einmal in der Woche pflegte Heinsohn einzukaufen, manchmal blieb er dann auch etwas länger weg, zwei oder drei Stunden, und wenn eine Maschine kaputt war, fuhr er zum Schmied, diesem Halsabschneider, der viel zu teuer war und natürlich auch bekloppt.
Heinsohn lebte freiwillig in diesem Gefängnis, das er seinen Hof nannte, aber Cengi konnte eingesperrt nicht leben. Oft schon hatte er gedacht, es wäre besser, sich zu stellen, weil es ohnehin kein großer Unterschied war, ob er auf Heinsohns Hof saß oder im Gefängnis auf einem Stuhl. An seiner Einsamkeit würde es nichts ändern. Vielleicht würde er im Gefängnis sogar Menschen aus der Heimat treffen, es hieß, der halbe Hemmstedter Knast sei voll mit Türken, die abgeschoben werden sollten. Ob ein Zaza oder gar einer aus dem Dersim dabei war, mit dem er in der Muttersprache reden könnte? Auf den Höfen arbeiteten viele Leute aus der Gegend von Bingöl und die meisten von ihnen waren Zaza.
Aber wie hätte er das Heinsohn erklären sollen?
Auch traute Cengi sich nicht mehr, in der Heimat anzurufen. Seine innere Stimme sprach nur noch Deutsch, sogar, wenn er an die Heimat dachte, und er fing an, Heinsohns Platt zu verstehen.
Cengi hörte nur das dumpfe Geräusch seiner Füße auf dem weichen Moorboden und seinen eigenen Atem. Wenn er stehen blieb, schwieg alles. In dieser Gegend konnte man noch das Geräusch der Stille hören. Es begann zu nieseln. Der alte Mongole am Himmel
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