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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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Winden wuchtig zusammengeballte Wolkenmasse langsam nach Osten, an den Punkt, wo Ebene, Wolken, Regen und Stadt zusammentrafen. Das unter dem dunkel dräuenden Firmament flach einfallende Licht wurde von der schlammig aufgewühlten Oberfläche der Donau reflektiert und beleuchtete die beiden einander beobachtenden Gesichter von unten. Es hatte etwas Erschreckendes, etwas Anderweltliches, auch wenn sich das Phänomen relativ leicht erklären ließ.
    Der Chauffeur spürte sehr wohl, dass zwischen den beiden Frauen hinter ihm etwas Ungewöhnliches vor sich ging.
    Sie lachten ganz leise, ganz kurz auf. Es war die Bekräftigung des verstehenden Blitzens ihrer Augen.
    Als sagte Gyöngyvér, siehst du, jetzt lüge ich nicht, ich gebe alles zu, worauf Frau Erna zu antworten schien, meinetwegen kannst du lügen, so viel du willst, mein Schatz. Ich verstehe dich auch dann, wenn ich einmal so tun sollte, als verstünde ich dich nicht. Aber das Lachen bezog sich nicht auf die ältere Kollegin, die ein herzkranker Mann in Gyöngyvérs Leben gewesen war; das hatten sie hinter sich, vergessen, damit beschäftigten sie sich nicht mehr. Nicht über diese Enthüllung lachten sie, sondern aus Verlegenheit über die gegenseitige Enthüllung.
    Sie saßen sich zugewandt wie Spiegelbilder.
    Sie schienen sich auf den Sitz zu drücken, mit zusammengepressten Schenkeln, eingezogenem Bauch und den Oberkörper ein wenig vorgewölbt. Das war das Lustvolle, hier einander präsent zu sein. Sich dem anderen zu überlassen, was nicht nur nicht alltäglich war, sondern ihnen auf eine tiefere, sorglosere Art vertraut vorkam. Also konnte man tatsächlich von Ágost in Frau Erna übertreten, und Gyöngyvér hatte nicht einmal bemerkt, wie das vor sich gegangen war. Das, was der Augenblick beinhaltete, hatte keinen Gegenpol, weder Anziehung noch Abstoßung, und so wurden sein Raum und Inhalt unendlich. Erna hatte nicht bemerkt, dass der sterbende Mann, der vielleicht gar nicht mehr lebte, aus ihrem Leben verschwunden war. Von einer platzenden Seifenblase bleibt mehr zurück. Ihr füreinander offener Blick verriet, dass sie auf diesem weniger übersichtlichen Gebiet, das kein Mann jemals betritt, nicht unkundig waren. Von ihnen beiden war Gyöngyvér die Kundigere, aber auch die Vorsichtigere, Zurückhaltendere. Frau Erna hatte sich ihr ganzes Leben lang eher auf ihre Phantasie und ihr Gedächtnis verlassen und war deshalb fordernder, gewissermaßen gieriger. Der Chauffeur seinerseits hätte gern im Spiegel zurückgeblickt, aber er konnte jetzt nicht. Der Wind stieß und schob den Wagen, und an dieser Stelle der Zufahrt zur Insel bestand der Straßenbelag immer noch aus den glatten gelben Keramikfliesen, die anno achtzehnachtundneunzig in der Demén’schen Ziegelei von Budakalász hergestellt worden waren, als man mit dem Bau der vom Mittelpfeiler ausgehenden, zur Inselspitze hinunterführenden Brückenabzweigung begonnen hatte; der gelbe Belag war rutschig.
    Ein unvorsichtiger Gedanke, eine ungeschickte Bewegung, und man geriet in dieser Kurve ins Tanzen.
    Die beiden Frauen merkten das gar nicht.
    Ihr Gefühl war doch um etliches brutaler, als was in ihre Lehrerinnen verschossene kleine Mädchen empfinden oder von ihren Gefühlen übermannte Lehrerinnen für ihre zügellosen Schülerinnen.
    Zu jeder Empfindung gehört ein Urereignis, in dem der Instinkt ruht. Das Lachen hatte sie darauf zurückgeworfen, und sie hätten, vom Instinkt geleitet, sich aneinander festhaltend, einen neuen Weg beschreiten sollen. Der Instinkt funktioniert bei jedem auf die gleiche Art. Die Urereignisse hingegen, zu denen man immer wieder zurückkehrt, sind sich zuweilen nicht einmal ähnlich. Manchmal ist es ein einzelnes Erlebnis, an das man sich nicht einmal wirklich erinnert oder das man am liebsten vergessen würde. Einigen gelingt das Vergessen so gut, dass an der Stelle des Erlebnisses eine Leere getreten ist, und man nur deshalb weiß, dass man etwas absichtlich vergessen hat, weil die Leere nicht zu füllen ist. Sie wird zu einem brennenden Mangel, den man nicht mehr zu benennen vermag. Bei anderen hingegen besteht das Urereignis aus einer Kette ineinander verschlungener, miteinander verklammerter Erlebnisse, die sich nicht auseinanderhaken lässt. Und ob man sich erinnert oder nicht, welche Empfindung aus welcher stammt, das Urereignis manifestiert sich in den Bedürfnissen der Instinkte.
    Einmal in dieser, dann in jener pulsierenden, pochenden Gestalt.
    Frau Erna

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