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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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blickte aus der Distanz mehrerer Jahrzehnte auf das einzelne Erlebnis zurück, das sie anstelle aller anderen in sich hegte wie ein Heiligtum. Gyöngyvér hingegen hätte in viele Richtungen schauen können, aber sie wollte ihre Erlebnisse nicht sehen, weder das gestrige noch die lange vergangenen.
    Das gestrige füllte das ganze Bild.
    Der Instinkt lässt sich nicht lenken.
    Wenn er sich auf seinem stinkenden Lager einmal rührt, lässt er wenigstens ein paar unabweisbare Augenblicke lang eins der Urerlebnisse aufblitzen, selbst wenn er nicht gleich sein ganzes Sortiment ausbreitet. Ein Urerlebnis von Gyöngyvér war, dass sie niemanden hatte und deshalb, sozusagen, selbst nicht vorhanden war. Oder im Gegenteil. Dass sie irgendwo auf der Welt jemanden hatte und sie selbst vorhanden sein würde, sobald sie diesen Jemand fand. Bis dahin würde sie von mitleidigen, grausamen, aufmerksamen oder komplett gleichgültigen Mädchen und Frauen weitergereicht werden, da keine mit ihr etwas anzufangen wusste. Sie brauchte sie nicht einmal anzusehen, die eine war so wie die andere. In allem verschieden, aber darin gleich, dass keine von ihnen mit der Frau identisch war, zu der sie gehörte.
    Die es nicht gab.
    Die anderen hingegen hörten nie auf, kamen, lösten sich ab, als gäbe es eine Zauberquelle, aus der Frauen sprudelten. Sie hatte die Frauen bis oben hin.
    Lieber suchte sie sich einen Mann, der jene einzige Frau ersetzte, die Leere ausfüllte.
    Aber wie besessen sie auch suchte, sie fand sie nie, beziehungsweise sie fand sie immer nur fast, da es ja jeweils ein Mann war.
    Frau Erna schaute nach einer einzigen jungen Frau aus, einem ganz besonderen Geschöpf, in dem sie sich ein einziges Mal, aber in aller Deutlichkeit, wie in einem Spiegel, erblickt hatte. Immer stellte sie in sich jene Einzige wieder her, der sie jahrzehntelang nie mehr begegnet war, von der sie aber wusste, dass sie noch lebte, auch wenn sie sie in ihrer physischen Realität gar nicht wiederzusehen wünschte, sie konnte sie ja in anderen Frauen sehen.
    Beinahe kühl beobachteten sie das vom Sturmlicht verfremdete Gesicht der anderen, in dem von ihren eigenen Parfüms und fremdem Zigarettengestank durchtränkten Taxi. Als wäre der Kopf der jungen Frau aus lebloser Bronze gegossen. Frau Erna hatte keinen Bedarf an lebenden Menschen. Gyöngyvér ihrerseits sah gleichzeitig zwei Gesichter anstelle des einen. Das eine trug wie einen unnötigen, ungeschickten Panzer den hastig verteilten Puder, den unregelmäßig aufgetragenen Lippenstift, die fettigen Klümpchen der Wimperntusche.
    Auf beiden Gesichtern keine Spur mehr von dem kleinen Lachen.
    Es blickten Mutter und Sohn auf sie, und da der Sohn zu ihr gehörte, gehörte sie zur Mutter.
    Das war entsetzlich. Da gab es nichts zu lachen. Beiden zitterten wieder die Lippen vor Erregung. Einer aufs äußerste gespannten Erregung. Was soll denn das, tobte Frau Erna anstelle ihrer eigenen empörten Mutter. Sie war auch in Gyöngyvérs Namen aufgebracht, sie musste ihr ja die Mutter ersetzen. Wäre der Wagen nicht wieder fast ins Schleudern geraten, hätten sich wahrscheinlich beide auf dem Sitz zurückgelehnt, um ihren in gefährliche Räume und Zeiten abschweifenden Dialog an einem ganz anderen Punkt fortzusetzen.
    Der Chauffeur fluchte inzwischen vor sich hin, aber so leise, dass sie nur ein Knurren vernahmen und nicht seine harmlosen Flüche.
    Und so kippten sie buchstäblich ineinander und hätten nicht sagen können, ob der Zufall ihre Körper lenkte oder ob ihr Instinkt die Gelegenheit schamlos ausnutzte. Und wenn es sich schon so verhielt, wollten sie das Gesicht der anderen leicht und beiläufig mit den Lippen berühren. Gewissermaßen die ganze peinliche Komödie abschließen, die sich ja doch nicht aufhalten ließ. Aber bei dem Geschleuder und Geschüttel kam auch das anders heraus. Frau Ernas weicher Lippenstiftmund berührte Gyöngyvérs harte, vielleicht zu harte trockene Lippen. Nicht direkt, die Lippenränder des einen Munds umschlossen den anderen Mundwinkel. Beide hatten das Gefühl, die andere habe angefangen. Das war schrecklich. Bevor die Lippen ganz aufeinanderrutschen konnten, hielten sie sich erschaudernd zurück. Das Umherrutschen, die unabweisbare Lust, die Stöße, die krampfhafte Abwehr, das ganze Durcheinander bewirkten, dass Gyöngyvér mit ihrer harten kleinen Stirn Frau Ernas breitkrempigen Hut herunterwischte.
    Sie griff ungeschickt danach. Den Hut erreichte sie nicht, aber es

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