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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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kann dein Herz schon haben.
    Du bist jung und stark.
    Während sie einen Augenblick stumm blieb, hielt sich die junge Frau mit beiden Händen die Schläfen, drückte sie, presste sie und klagte mit kleinen Wimmerlauten.
    Nitromint bekommt man doch nur im Fall von schwerer Herzkrankheit, auch wenn es tatsächlich ein ziemlich harmloses Medikament ist.
    Inzwischen war Frau Erna auch das Taschentuch in die Finger geraten, ein schneeweißer, leicht gestärkter Batist. Die zerstreute Geste, mit der sie es benutzte, gehörte zu den diskreten Höchstleistungen ihrer Erziehung. Sie fixierte Gyöngyvér, die gerade solche scheinbar beiläufigen Gesten am gierigsten registrierte, und tupfte mit dem makellosen Taschentuch die Schweißperlen unter ihrer Nase so auf, dass weder Tuch noch Finger die Lippen berührten. Nicht nur, dass sie den Lippenstift nicht verschmierte, das Manöver selbst blieb unauffällig. Das ist der Trick der wohlgesitteten Taschentuchbenutzung. Man muss bis zu einem gewissen Grad zuerst davon ablenken. Die Bewegung muss rasch und zurückhaltend sein, aber nicht geziert.
    In der anderen Hand hielt sie immer noch die Pillendose.
    Aber es ist ein Explosivstoff, ich weiß es, bitte zu glauben, es ist Nitroglyzerin, schwatzte Göngyvér eifrig weiter. Ich selbst habe ein Sportlerherz, tatsächlich wie aus Eisen. Sie spürte, dass sie mit dem Kopfschmerz bei Frau Erna nicht ankam. Aber ich hatte eine ebenfalls schwer herzkranke ältere Kollegin, eine Freundin, die ich sehr gern hatte und der ich oft half, bitte zu glauben. Ich habe ein paar Monate bei ihr gewohnt, und während sie das erzählte, wurde sie nicht nur über und über rot, sondern machte ein Gesicht, als ob die Erinnerung an diese Freundin sehr schmerzhaft wäre.
    Jetzt hatte sie sich endlich verraten, das kleine Chamäleon. Das künstlich hergestellte schmerzliche kleine Lächeln, das sie auf ihrem echten Kopfweh aufbaute, war wahrscheinlich von der Erinnerung an den wirklichen Schmerz ausgelöst worden, der seinerseits den Schmerz zudeckte, den Ágost ihr ständig bereitete. Ihre Haut straffte sich, ihr Gesicht verschönerte sich. Auch wenn ihre Seele voller Narben war, voller eiteriger Stellen, blutender Wunden.
    Ihr Blick hingegen war ganz woanders. Ohne Wimpernzucken, bis zur Schamlosigkeit teilnahmslos fixierten sie sich.
    Die in Wirklichkeit ein älterer Herr war, diese deine liebe Freundin, wenn ich das richtig sehe, antwortete Frau Erna gallig.
    Das hätte sie nicht sagen sollen, dachte sie gleich, aber der Satz war einfach mit elementarer Kraft aus ihr herausgebrochen. Ich weiß schon, mein Mädchen, schien sie zu sagen, dass du eine große Hure warst und auch noch bist. Und jetzt willst du mit deiner Sentimentalität meinen Sohn um den Finger wickeln.
    Sie sah durch die andere hindurch, die selber spürte, dass sie nicht so hätte lügen sollen.
    Und ich werde auch noch rot, damit es diese alte Schachtel ja sieht.
    Für beide war es zu spät. Beide Aussagen blieben in der Luft hängen. Keine ließ sich zurückziehen.
    Aber warum sagt Frau Erna so etwas, warum, jammerte Gyöngyvér, als wiederhole sie das Winseln über ihre Migräne und, vor allem, als müsse sie sich selber überzeugen, dass man ihr schrecklich unrecht tat. Obwohl sie durchaus spürte, dass sie mit ihrem infantilen Selbstmitleid offenes Gelände betrat, wo sie keine Deckung mehr hatte. Ich verstehe nicht, wimmerte sie, ich verstehe wirklich nicht, warum Frau Erna mich so hasst.
    Wovon redest du, wenn ich fragen darf.
    Aber ich fühle doch, dass Frau Erna mich hasst.
    Kann ja sein, dass du das fühlst, über Gefühle lässt sich nicht streiten, erwiderte Frau Erna hart. Tatsächlich redest du dauernd am Thema vorbei, mein Kind. Gelinde ausgedrückt.
    In dem seltsamen Licht leuchteten beide Gesichter fast.
    Sie konnten nicht feststellen, woher das Licht kam, sie durften nicht zur Seite blicken, durften mit keiner Wimper zucken, die andere hätte das gleich verstanden. Keine durfte ausweichen. Als wären sie immer vor diesem Moment geflohen, oder immer auf ihn zugeflohen. Beide empfanden es so. Frau Erna war voller unterdrückter Erwartung, Gyöngyvérs Glieder füllten sich mit Leichtsinn, mit der explosiven Überlegenheit der Jugend, der vollen Lebenskraft. Eine intime Dynamik, wie sie es vom Handball her gewohnt war, wo Geschicklichkeit, Berechnung und Kraft zusammenspielen. Diese Empfindungen waren auf beide Gesichter als ironisches Lächeln eingezeichnet, das sich auf

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