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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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sie selbst wie auch auf die andere bezog.
    In diesem Moment jedenfalls hatten beide sämtliche Waffen gestreckt.
    Was Gyöngyvér kühner machte, sie empfand die Kühnheit der anderen als Ermächtigung. So wie wenn sie den Ball sauber zugespielt bekam, dann eine blitzschnelle Bewegung seitwärts, ein Seitenschwenk, worauf sie loslief und die gegnerische Verteidigung austrickste. Sie packte plötzlich die Hand Frau Ernas, die auf alles gefasst war, nur darauf nicht, und sie tat, was sie schon ein paar Minuten zuvor hätte tun sollen, aber ohne diese Ermächtigung nicht gewagt hatte, sie drückte sie und behielt sie in der Hand.
    Die ältere, herzkranke Freundin mochte tatsächlich ein älterer Herr gewesen sein, der sie ausgehalten hatte, zugegeben, aber er war zum Glück nicht weniger herzkrank gewesen, als es die Kollegin hätte sein können. Irgendwie waren auf eine solche Art alle ihre Lügen wahr. Sie bat für alle um Verzeihung, nachträglich und im Voraus. Und es ist auch so, dass ich dich um deine wunderschönen Hände, deine zarten Finger, um deine vornehmen, schönen Ringe und das auf dein feines, knochiges Handgelenk herunterrutschende Armband schon seit langem beneide und bewundere. Ich liebe sie, ich liebe sie. Vielleicht genau so, oder sehr ähnlich, wie ich jede Parzelle deines Sohnes liebe, seine Haut, sein Haar, seinen Geruch, seine Stimme, seinen Atem, das ist für mich mein Schmuck. Jede Nacht möchte ich mich damit schmücken. Ich liebe ihn, ich liebe ihn. Keine einzige seiner Fasern lässt mich ungerührt.
    Ach, ich sterbe ohne sie.
    Das Selbstmitleid schlug, wie immer bei ihr, in Demut um. In ihr war so viel schlüpfrige Unterwürfigkeit, wie aus Frau Erna Egoismus, Abweisung und Überheblichkeit strömten. Es erinnerte sie unheimlich an die Behandlung, die Frau Erna ihrem Sohn zukommen ließ. Sie wies ihn zurück, in ihrem Leben gab es kaum einen Menschen, den sie im Namen einer ewig unerfüllten Sehnsucht nicht zurückgewiesen hätte. Niemanden. Ihre Tochter hatte gegen sie aufbegehrt, war deswegen umgekommen, ihr Sohn hingegen folgte ihr treu und selbstvergessen. Wie ein Hund. Nicht nur ihr Äußeres, auch ihre Überheblichkeit, ihr Egoismus waren ähnlich geartet.
    Gyöngyvér ging so weit, sich über die schöne Hand zu neigen und sie zu küssen. Auf die gleiche anmutige Art, wie wenn sie Männerschwänze in den Mund nahm.
    Um sich deren infantilem Egoismus zu unterwerfen.
    Frau Erna fühlte sich in diesem flüchtigen Augenblick von der Pillendose in ihrer Hand gestört und behindert. Sie hätte gern ihre Hand um Gyöngyvérs behandschuhte Finger geschlossen. Das Handschuhleder war glatt wie eine zweite Haut, gespannt, kühl. Sie sah Gyöngyvérs nackten Nacken nur einen Augenblick. Und war versucht, den fast kindlich dünnen, ausrasierten Frauenhals zu küssen. Ihr Gefühl für Ästhetik wollte das nicht weniger als eine aus größerer Tiefe heraufbrechende Sehnsucht, die kurz und dumpf über sie kam.
    Sie erbebte, ihr Körper wurde vor Rührung feucht.
    Wenn Gyöngyvérs Lippen nur einen Augenblick länger auf dieser Hand ruhten. Sie waren weich, seidig und kühl wie die Berührung einer Eidechse. Doch Gyöngyvér richtete sich gleich wieder auf.
    Mit einer Erwiderung, eventuell sogar mit Gegenseitigkeit rechnete sie nie, damit wurde sie auch von Ágost nicht verwöhnt.
    Der dunkelgraue, schwerfällige Pobeda hatte inzwischen die Inselzufahrt erreicht und verlangsamte etwas. Nicht so sehr wegen der Kurve als wegen des von Norden kommenden gewaltigen Windstoßes. Das ist der höchste Punkt der leicht gewölbten Brücke. Wer vom Pester Ufer kommt und nicht mit anderem beschäftigt ist, wird unwillkürlich den sich vor ihm ausbreitenden Hügelzug von Buda mit dem Blick erfassen. Jetzt sah nicht einmal der Chauffeur viel davon. Die Scheibenwischer arbeiteten wie wild, der Wind presste die klatschenden Tropfen des Regenschauers wie einen Umhang gegen den Wagen. Ein flüssiger Opalvorhang über allen Scheiben. Nächtliches Dunkel schien sich über sie gebreitet zu haben, wobei irgendetwas scharf und beharrlich darin leuchtete. Der Himmel war über der ganzen Stadt schwarz und dicht geworden, aber jenseits der Stadt, irgendwo im Süden, über der Insel Csepel, und im Nordwesten, über den Hügeln von Buda, waren die Wolken aufgerissen. Der Rand des Himmels klarte in einem mächtigen Bogen auf, und von dort leuchtete es flach, weiß und stark unter das Dunkel herein. Als ziehe die von den starken

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