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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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gelang ihr, Frau Erna die Pillendose aus der Hand zu schlagen. Die Frauen kreischten nacheinander auf, und der mit einem großen, schwarz glänzenden Schleifenbukett geschmückte Hut schlitterte über die Lehne des Vordersitzes neben das Bein des Chauffeurs. Die Silberdose öffnete sich, die leuchtend weißen Pastillen verstreuten sich über den gerippten Gummibelag des Wagens.
    Sie lachten beide auf, befreit und schrill. Der Chauffeur musste den Wagen gegensteuern, konnte nicht weiter auf sie achten. Dann verstummten beide fast gleichzeitig.
    Der einander zugefügte Schrecken war größer.
    Das Gefühl der fremden Lippen war auf ihren Lippen haftengeblieben wie eine schmerzhafte Marke, die einen eher zeichnet als auszeichnet. Über so etwas kommt man nicht leicht hinweg. Mit erregtem Schoß zu einem Sterbenden eilen, so schrill kreischen und lachen, das war doch zu viel. Ein anständiger Mensch erwartet das nicht von sich, benimmt sich nicht so. In ihrer tödlichen Verlegenheit erstarrten sie für ein paar Sekunden, das Schweigen zwischen ihnen wurde eisig.
    Gleichzeitig stillte sie auf einem ungepolsterten holländischen Stuhl.
    Gyöngyvér regte sich zuerst, sie bückte sich und begann, die Pastillen zwischen den Rippen des Gummibelags herauszuklauben.
    Es ist mir furchtbar peinlich, sagte sie, in ihre weinerliche Tonlage zurückfallend, furchtbar peinlich. Bitte mir nicht böse zu sein, ich richte immer etwas an.
    Ach was, lass doch, sagte Frau Erna, und auch sie tauchte ab, um die Dose zu suchen, die unter dem Vordersitz verschwunden war. Sie musste achtgeben, dabei vor allem das auf ihrem Schoß liegende Dokument nicht zu zerknittern. Es war auch zu befürchten, dass sie in ihrem großen Eifer noch einmal zusammenstießen.
    Bitte es zu lassen, o Gott, es ist mir sehr peinlich.
    Ach was, Dummerchen.
    Ich mache das schon.
    Für dieses Manöver musste Gyöngyvér ihre Handschuhe doch ausziehen. Die weißen Kügelchen steckten unglücklich in den Rippen des schwarzen Gummibelags fest. Sie zog die Handschuhe mit einem Gefühl aus, als entblöße sie sich schamlos vor einer unbefugten Person.
    Sie verstand nicht, warum sie vor ihrer Mutter so etwas empfand.
    Dann füllte die Welle mit einem Schwappen, massig und geräuschvoll, die ganze Felsenhöhle. Zwischen den Geländerstangen hindurch sah sie einen Augenblick auf das aufgewühlte, windgepeitschte Wasser hinunter.
    Geben Sie mir doch bitte den Hut, sagte Frau Erna unterdessen zum Chauffeur.
    Gleich, einen Augenblick Geduld, bitte, antwortete der Chauffeur beflissen und kühl.
    Die schweißglänzenden jungen Männer unterbrachen ihre immer stärkeren Ruderschläge, zogen die Ruder mit einer einzigen entschiedenen Bewegung ein. Sie konnte den Blick nicht von ihnen abwenden. Dachte daran, dass auch die das können und es in der Nacht wahrscheinlich getan hatten. Es sah aus, und sie wollte schon aufschreien, als würden sie im nächsten Augenblick gegen den Felsen prallen. Das sah sie jetzt aus größerer Nähe als den Nacken von Gyöngyvér, die auf dem Wagenboden nach den Pastillen angelte. Das Wasser schwappte klatschend gegen die Bootswand. Ein leichtes, schmales Boot, aber doch um etliches schwerer als die Nussschalen auf der Tisza.
    Signora
, den Kopf einziehen, Ihr Hut,
Signore
, den Kopf einziehen, schrien die jungen Männer mit ihren hellen Stimmen, von den sacht schlappenden Wellen des sonnenglitzernden, in dieser frühen Stunde süß duftenden Meers leicht geschüttelt, und das Boot schlüpfte durch den Felseneingang in die Höhle.
    Sie traten in Nachtdunkel, in Schweigen über. Da kam ihr das Stöhnen, so wie die ganze Nacht, manchmal lauter als die Zikaden. Nichts trennt die Welten voneinander. Lust und Schmerz lassen sich nicht trennen.
    Sie streifte sich die Handschuhe wieder über, als wäre dies das Wichtigste. Und beugte sich etwas vor, streckte die Hand über die Lehne des Vordersitzes, aber der Chauffeur gab ihr den Hut noch immer nicht zurück.
    Sie musste die Knie zusammenpressen, damit dieses kurze Hinübergleiten in ihrer Scheide nicht so durchdringend die rhythmischen Rutscher der vorangegangenen Nacht heraufbeschwor. Es tat weh. So wie später, Jahre danach, als sie mit gespreizten Beinen auf dem harten holländischen Stuhl stillte und das zärtliche Winterlicht durch die Reihe der hohen, in Quadrate eingeteilten Fenster opalfarben hereindämmerte. Es sickerte nur gedämpft durch Nebel und Wolken hindurch. Unter dem Blick der anderen Frau

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