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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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verstand sie gar nicht, wo der Chauffeur dieses dumme Frau Doktor herhatte, und überhaupt, was wollte der von ihr. Sie mochte das nicht, konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, dass das Personal eigenmächtig handelte. Woher wollte der wissen, dass sie den Doktor hatte, wo sie doch den Titel nie führte.
    Die Fahrbahn vor ihnen war bis zur Török-Straße aufgebrochen. Die Gasleitungen wurden ausgewechselt, auch wenn in dem langen, nassen Graben jetzt niemand arbeitete.
    Über Geerte van Groots mächtigem, fleischigem, stark gekerbtem Mund lief eine deutlich gezeichnete, senkrechte Narbe, die in der Höhle ihrer breitflügeligen, flach gedrückten Nase verschwand. Sie war mit einer Hasenscharte zur Welt gekommen;
labium leporinum,
so der lateinische Name der Missbildung. Zu der Zeit, als sie geboren wurde, in den letzten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, war das keineswegs ungefährlich. Ein Säugling mit Hasenscharte kann nicht saugen, weil seine Gesichtsfortsätze gespalten sind. Die Oberlippe gewinnt ihre Gestalt durch die Vereinigung einer mittleren und zweier seitlicher Gesichtsfortsätze, die Unterlippe durch die Vereinigung von zwei Fortsätzen, und die Hasenscharte lässt diese Vereinigung nicht zustande kommen. Meistens an der Oberlippe, und manchmal so, dass die Lippe gänzlich auseinanderklafft. Der Säugling mit Hasenscharte kann außerdem nicht sofort operiert werden, er muss erst zu Kräften kommen. Die künstliche Ernährung war damals aber nicht einfach, die Säuglinge wurden häufig von den dazu benutzten Instrumenten infiziert. Es entstand ein Teufelskreis. Wegen der Infektion musste die künstliche Ernährung unterbrochen werden, dann aber drohte die Dehydration. Geerte war drei Wochen alt gewesen, als sie operiert wurde, und man hätte nicht viel darum gewettet, dass sie die kritischen Phasen der Wundheilung überstand. Man schnitt ihr die schwer entzündeten, eiternden Wundränder vorsichtig weg und vernähte die Wunde glücklich mit drei Stichen. Ihr Mund war eigentlich ein chirurgisches Meisterwerk, doch fehlte die Dreiteilung der Oberlippe, die natürliche Spur der Vereinigung der Gesichtsfortsätze. Und jetzt war dieser Mund nicht einmal geschlossen, wodurch er noch runder wirkte. Was gleichzeitig anziehend und abstoßend war, wie alle Beschädigungen, die die körperliche Integrität antasten oder auch nur an eine solche Möglichkeit erinnern.
    Offenbar, dachte Frau Erna, bringt mich das Leben immer mit so Dicklippigen zusammen.
    Auch der Sterbende hatte einen üppigen Mund.
    Entschuldigen Sie mal, rief sie über das Gerüttel hinweg zum Chauffeur nach vorn, woher nehmen Sie eigentlich dieses Frau Doktor. Ich verstehe nicht, was Sie damit wollen.
    Der Mann rief, ohne sich umzudrehen, laut nach hinten.
    Ich habe den Herrn Professor mehrmals gefahren, zur Universität, zur Akademie, auch zur Parteizentrale. Sind auch beide gemeinsam mit mir gefahren, woran sich Frau Doktor gewiss nicht mehr erinnert, weil es Abend war. Letzten Winter ins Erkel-Theater zu einer Aida, als plötzlich so viel Schnee fiel. Und vorher auch einmal, zum Parlament, als der Herr Professor, nicht wahr, den Roten Bannerorden bekam.
    Wie Frau Doktor sieht, erinnere ich mich genauestens, bitte zu glauben.
    Sehr löblich, sehr freundlich von Ihnen, erwiderte Frau Erna ungeduldig, aber ich verstehe immer noch nicht, wie daraus folgen würde, dass ich den Doktor habe. Was sind das für Scherze.
    Na, bitte mal aufpassen, sagte der Chauffeur lachend und drehte sich einen Augenblick sogar leutselig um. Die Sache ist doch ganz einfach. Ich habe gehört, wovon der Herr Professor und die Gattin sprachen. Bitte schon zu entschuldigen, aber dazu braucht es mindestens ein Diplom und ein Doktorat.
    Ich verwende den Titel nie.
    Das nun ist mein Fach, daraus besteht es, ich brauche nicht alles zu hören, um zu wissen, wen ich fahre.
    Sie konnte sich nicht vorstellen, worüber sie gesprochen hatten, erinnerte sich nicht mehr. Bestimmt nicht über ein vertrauliches Thema, darüber pflegt man ja nicht im Taxi zu reden.
    Während sie die geschwollene Warze ihrer linken Brust zwischen die Finger nahm, ein wenig anhob und sah, dass die Milch in der Tat reichlich heraussickerte, hätte sie am liebsten den Chauffeur laut gefragt, ja, was haben wir denn geredet. Aber so nah an sich heranlassen wollte sie ihn nicht. Einen vom Geheimdienst, der vielleicht Pfeilkreuzler gewesen war, wobei sie jetzt spürte, dass wohl beide Annahmen falsch

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