Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
Vom Netzwerk:
Kindern reisten. Dann wäre ihre Tochter vielleicht noch am Leben. Warum vermag man nicht im Augenblick zu bleiben.
    Warum geht man weg.
    Warum weiß man nicht, in welchem Augenblick man bleiben soll, bis ans Lebensende bleiben.
    Und, belieben, rief der Chauffeur fröhlich, durch meinen Sohn weiß ich viel, das verrate ich auch gern. Er war ein lieber Student des Herrn Professors, und deshalb war er recht oft bei ihm in der Wohnung.
    Ja, sozusagen, er verkehrt da noch immer.
    Ach so, sagte Frau Erna, die von den lieben Studenten ihres Mannes keine hohe Meinung hatte und eher die Studenten interessant fand, die sich vom Professor fernhielten oder ihn geradewegs hassten.
    Dann verstehe ich, sagte sie zurückhaltend. Und wie heißt der junge Mann, fragte sie. Ich meine, der liebe Sohn.

Im Zauberspiegel sich selbst
    An den folgenden Tagen konnte er nicht wieder dorthin, weil ein leiser Regen fiel. Oder eher so etwas wie ein nieselnder Nebel. Es wollte nicht aufhören. An solchen Tagen füllt sich die Stadt mit Dunst, die Wolken lasten schwer, es wird dunkel, unter den Autorädern ein regelmäßiges Zischen.
    Döhring wartete, dass es aufhörte.
    Er stand am Fenster, starrte auf die langsam über die Scheibe gleitende Feuchtigkeit. Beobachtete diesen gewöhnlichen, einfachen physikalischen Gesetzen gehorchenden Vorgang und folgerte daraus, dass er nicht verrückt war. Er würde durchhalten. Vielleicht würde er seinen Fortsetzungstraum von seinem gewöhnlichen Leben abspalten können. Wenigstens war keine sichtbare Spur geblieben, er hatte alles geputzt. Und es würde hoffentlich auch keine Folgen haben. Das Telefon klingelte nicht. Wenn es geklingelt hätte, wäre er nicht drangegangen, seine Seele schlotterte noch von dem Notfall. Auch den Fernseher oder das Radio schaltete er nicht ein. Er ging nicht hinunter, um nach der Post zu sehen. Außerdem hätte er nichts vorgefunden als einen Haufen Reklame. Bevor er wieder in die feindliche Welt hinausgehen konnte, wollte er zu dem nüchternen Ich zurückkehren, das vielleicht nie existiert hatte.
    Jetzt wusste er es.
    Er holte eine Landkarte hervor, um die ziellosen Ausflüge der letzten Tage zu überprüfen.
    Eine Landkarte ist ein nüchterner Gegenstand, eine Darstellung von physikalischen Unterschieden, auf Beobachtung beruhend, durch Messungen verifiziert.
    Während seiner ersten Berliner Tage hatte er wahrscheinlich den Teufelssee entdeckt.
    Auf der Karte fand er einen ähnlichen kleinen See, der Pechsee hieß, vielleicht weil das Wasser dunkel war. Er konnte nicht mit Sicherheit entscheiden, welcher von den beiden es gewesen war. Bei seinem zweiten Ausflug hingegen war er höchstwahrscheinlich neben dem Grunewalder Turm bis zur Havel gelangt. Während er auf der Karte die miteinander verbundenen blauen Flecken von Seen und fließenden Gewässern studierte, kam ihm ein unwiderstehliches Bedürfnis nach Wasser, hinauszuschwimmen, die Glieder zu spüren.
    Das Wasser sollte die Nacht von seiner Haut waschen.
    Damit er die Scheiße nicht mehr roch.
    Auf der Landkarte waren noch mehr Seen eingezeichnet. Doch der Regen hörte nicht auf. Die Wohnung der Tante befand sich im obersten Stock, unter dem Dach. Sie bestand insgesamt aus fünf Räumen, von denen einer unverhältnismäßig groß war. Ein leeres, gleichmäßig helles Geviert, aber nie von der Sonne beschienen. Seine mit länglichen Fenstern dicht unterteilte Wand blickte nach Norden, und von hier trat man auf eine riesige, die Grundfläche der Wohnung um etliches übertreffende Terrasse hinaus.
    Die dunklen vertikalen Fensterbalken teilten den nördlichen Himmel in Streifen. Die Regenwolken kamen von dort, aussichtslos und schwer, es war kein Ende abzusehen. Er sah weit über die Dächer hinweg, sah aber auch nichts anderes. Die gedrungene weiße Ziegelbrüstung war aus Sicherheitsgründen speziell hoch, damit man sich nicht hinauslehnen konnte. Die Tante hatte hier ursprünglich ihre Bildersammlung unterbringen wollen, doch dann hielten sie und ihr Agent die Düsseldorfer Bank für sicherer. Von der Sammlung hing hier nur ein einziges Stück ziemlich beträchtlichen Ausmaßes an der leeren weißen Wand, unter den dunkel gebeizten, spitz aufeinander zulaufenden Balken.
    Es war, als stünde man in einem leeren Kirchenschiff. Interessanterweise war auch auf dem Bild nichts anderes zu sehen als weiße Wände und Balken, Feuer und farbige Flammen, oder so etwas.
    An diesem langen, ereignislosen Regenvormittag hatte

Weitere Kostenlose Bücher