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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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waren. Der Mann machte ihr etwas vor.
    Gleichzeitig senkte Geerte die Lider ein wenig, nicht ganz, und von da an konnte die zweifache Erinnerung parallel ablaufen.
    Manchmal ist es besser, Sehen und Fühlen zu trennen.
    Geerte blickte trotzdem unter den Wimpern hervor, um den blasigen, violetten Warzenhof zu sehen, während sie sich ganz in ihre Empfindungen gehenließ. Sie dachte nicht daran, dass sie es sich versagen sollte, dass es dafür einen moralischen Grund geben könnte. Sie würde fündig, wenn sie nur geführt wurde. Erna ihrerseits bewunderte Geertes dicke, träge Augenlider, die roten Wimpern, deren Ansatz von einem durchsichtigen Blond war. So wie ihr Gesicht hatte wohl auch die niederländische Malerei des siebzehnten Jahrhunderts ihre verborgenen Elemente. Das war ihr gemeinsames Geheimnis.
    Das bisher vielleicht von niemandem betrachtet und analysiert worden war.
    Der Dreißigjährige Krieg mit allen seinen Schrecken zieht sich ins Familiäre, ins Heimische, ins unnachahmlich Zärtliche, in allumfassende Aufmerksamkeit und Feinheit zurück. Eine Draperie, die wohltuend von der menschlichen Natur verhüllt, was Uneingeweihte nie mehr sehen sollen. Oder wie eine Falte, dachte sie plötzlich, eine rußgeschwärzte Furche, die von brennenden Schmerzen zeugt.
    Man müsste die Jahreszahlen nachsehen, ob es wirklich so ist.
    Auch bis dahin hatte sie Geertes Gesicht, ihre knochige, trockene Gestalt betrachtet, als hätte sie in dem fremden Städtchen das lebende Modell nicht nur eines Malers, sondern einer ganzen Malschule entdeckt. So wie es genügte, ans hohe, unterteilte Fenster zu treten, um zu sehen, welche Maßstäbe die Beschaffenheit der Luft den niederländischen Malern gesetzt hatte. Jetzt aber verhielt es sich gerade umgekehrt. Sie sah am Gesicht eines lebenden Menschen, was in der Malerei einer großen Epoche verborgen war. Und falls die Jahreszahlen ihre Annahme bestätigten, würde sich der Akzent auf allem verschieben.
    Das aber war wie ein beunruhigendes, schwebendes Gefühl, es liegt einem ganz vorn auf der Zunge, und doch bleibt es unformuliert, einmal da, einmal nicht, unerreichbar.
    Später habe ich natürlich auch davon vieles verstanden, dachte sie bitter und lachte sich wegen ihrer einstigen Naivität aus, wegen dieser Unschuld vortäuschenden, brutalen Vorkriegswelt, die sich an strenge Gewohnheiten und Anstandsregeln klammerte. Gleichzeitig zerbrach sie sich den Kopf, was sie an jenem verschneiten Abend wohl geredet haben mochten, was wohl, und ob sie den lederbemützten Chauffeur fragen sollte, der bestimmt kein Geheimpolizist war, sondern vielleicht doch ein Pfeilkreuzler, in jedem Fall aber zu schwatzhaft.
    Das Personal hat nicht geschwätzig zu sein.
    Doch ein Pfeilkreuzler, jetzt war sie sicher, ein Pfeilkreuzler, der dann zur Geheimpolizei gegangen ist.
    Geertes starke, straffe Arme umfassten wieder ihre Hüfte. Besser, wenn sie sich auf kein Gespräch mit ihm einließ.
    Sie blickte auf diesen Männerkopf und blickte auf diese Erinnerung, beobachtete die wulstigen Lippen, wie sie sich um ihre Brustwarze schlossen, sie ihr aus den Fingern nahmen. Sie ließ sie los, sollen die Lippen sie haben.
    Als wäre es nicht Lust, sondern eine edle Tat, den Durst des verunstalteten Mundes zu stillen. Die Geste des Ernährens bekam durch die Lust eine neue Bedeutung. Sie versenkte die ausgestreckten Finger einer Hand in Geertes wollig rötlichem Haar, die andere steckte sie, soweit das steif gewebte, gestreifte Leinenkleid es überhaupt zuließ, ein bisschen ungeschickt, ein bisschen verschämt zwischen Geertes Schenkel. Und versuchte immer noch nichts zu spüren. Sie überdeckte ihre Empfindungen mit ihrem Denken, sie meinte sich mit etwas anderem zu beschäftigen als mit dem, was sie fühlte.
    Da sie ja doch gerade darüber nachdachte, wie die Malerei einer Epoche fähig ist, von den durchlebten Schrecken der Geschichte abzulenken.
    Und so vergingen vielleicht sogar Minuten, bis sie laut aufstöhnte.
    So intensiv dachte sie über das alles nach, dass sie Gyöngyvérs Nacken nicht sah, nicht wusste, wann genau sie die Pillen aus dem gerippten Gummibelag geklaubt und sich wieder auf den Sitz zurückgesetzt hatte. Es tat entsetzlich weh, in dieser alten Lust unterzutauchen. Wie ein Vorwurf, dass sie sich von Geerte losgerissen hatte. Die Jahre waren vergangen, aber die Erinnerung war nicht verblasst. Sie hätte dortbleiben sollen.
    Wenn nicht in Groningen, dann in Venlo, wohin sie mit den

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