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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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in den Sinn kam, die roten Flecken, die Erregung, der Schmerz, wo er das doch gar nicht wollte, und warum gerade jetzt.
    Das würde er nie erzählen, niemandem.
    Wenn wir in den Sommerferien in der Normandie waren, oder in Anacapri, fuhr er fort, als wolle er sich selbst unterbrechen, war das natürlich eine ganz andere Situation.
    Gyöngyvér sollte eigentlich verstehen, was er verschwieg und auch nie erzählen würde.
    Es sprach sich herum, dass der Ungar einen größeren Pimmel hatte als die anderen.
    Man plappert den ganzen Tag mit den anderen Kindern in einer fremden Sprache und bleibt doch das ungarische Kind, denn die Ferien beginnen einmal und gehen auch einmal zu Ende. Dort aber gab es so etwas nicht wie Ungar oder nicht Ungar.
    Ich bin Ungar, sagte ich. Sie verstanden nicht, warum man sich deswegen schämen müsste. Sie nickten höflich, na schön, oder sie zuckten mit den Achseln. Es hatte keine Bedeutung, beziehungsweise die Lichtschalter waren anderswo. Hier gab es die verschiedensten Nationalitäten, sie aber fühlten sich mit diesen zwei großartigen Sprachen überall zu Hause. Das verleiht noch dem größten Idioten ein unglaubliches Selbstvertrauen. Glaub mir, das verstehen wir Ungarn nicht, auch das hörst du wahrscheinlich meiner Stimme an. Wenn sogar einer aus Belgisch-Kongo in einer menschlichen Sprache sprechen kann, auch wenn er eine flache Nase hat wie ein Gorilla, was will ich dann mit meinem Ungarisch. Wen interessiert das schon. Und dann war bei ihnen alles schöner, gepflegter, worüber ich mich doch freute. Vielleicht war das die tiefste Demütigung. Dass alles schöner war. Besonders die großartigen Berge.
    Siehst du, jetzt sagst du es auch wieder so, Demütigung.
    Bis du merkst, dass in den Tälern nachmittags um zwei die Sonne untergeht. Oder die Beine der Frauen, wie sie hinaufsteigen, mit ihren starken, bestrumpften Beinen. In flauschigen Wollstrümpfen. Wenn man nur die Beine sieht, kann man gar nicht sagen, ob es die einer Frau oder die eines Mannes sind, sie sind gleich stark, kurze Beine mit hervorstehenden Waden. Und die Handtücher in den Badezimmern, die sind auch flauschiger. Die Türklinken sind schöner, die Schlösser ausgesprochen freundlich zu einem, alles große Überraschungen, sie klicken nicht so laut, die Straßenbahn auch schöner. Das muss man ihnen lassen. Nein, vielleicht nicht schöner. Man kann sich einfach nicht vorstellen, dass es Straßenbahnen gibt, die nicht gelb sind, aber ihre Straßenbahn ist nicht gelb.
    Was heißt, ist nicht gelb, was ist nicht gelb, fragte Gyöngyvér verständnislos.
    Wo die Straßenbahn nicht gelb ist, ist Gelb für anderes reserviert, erklärte Ágost. Gelb ist die Farbe des Sommers, der Blindheit, des Neids oder des Wahnsinns. Man ist an einem Ort, wo alles anders ist, das verstehst du doch. Und das ist immerhin eine große Erschütterung. Bestimmt hast du Ähnliches erlebt. Wenn man Straßenbahn sagt, ist das für dich Weiß, Braun, Gelb. Eine andere Straßenbahn kannst du dir gar nicht vorstellen. Dazu müsstest du anders sein als du bist.
    Und das ist nicht möglich, fuhr er beinahe gereizt fort. In diesem Augenblick erkannte Gyöngyvér tatsächlich den kleinen Jungen von einst in ihm.
    Es ist einfach nicht möglich. Weißt du, deine Zunge passt sich dieser ganzen verdammten fremden Welt nicht an, sagte er und sah de Lecluse vor sich, dessen aufdringlich rote Lippen, das krankhaft weiße Gesicht, die unbarmherzigen blauen Augen. Er wusste nicht, was diese Jungen in ihm sahen. Er musste es akzeptieren, denn er war allein, und sie waren viele. Er schaute um sich, wohin er sich zurückziehen könnte, aber seine Füße hafteten nicht, rutschten auf dem nassen Holzgitter. Er hatte nicht gewusst, dass es eine Bedeutung hatte, wessen größer war, und deshalb konnte er nur denken, dass sie ihn wieder schlagen würden. Es gab keine andere, besser verständliche Welt.
    Nach so vielen Jahren verstand er dank der ratlosen Aufmerksamkeit dieser fremden Frau, dass de Lecluses Blick ihn das Unmögliche hatte akzeptieren lassen. Er musste mit seinen Körperteilen Handel treiben. Aus der fiktiven Welt, die er zusammen mit seiner Muttersprache mit sich schleppte, in die reale Welt übertreten. Es würde also doch alles von Größe und Stärke abhängen.
    Gyöngyvér hingegen begann verschämt zu kichern, aber nein, aber nein.
    Das Widersprechen wurde auch gleich zur Rolle.
    Du machst Witze. Wie hätte ich irgendwas Ähnliches erleben

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