Parallelgeschichten
Übertreibung. Sie liebten sie, taten alles für sie.
Meine Schwester verstand das Ganze schon viel besser als ich, aber wie sollte sich ein zehnjähriger Junge wehren. Auch sie wollte nicht ins Ausland. Ich habe erst viel später begriffen, dass die Arme wahrscheinlich zum ersten Mal im Leben verliebt war, wie hätte sie also den Jungen verlassen wollen. Als hätten sie geahnt, was heißt geahnt, sie wussten es, wussten genau, was kommen würde. Unser Vater hat einmal bei Tisch gesagt, du hast mir zwei Judenkinder eingebrockt, und jetzt trage ich die Konsequenzen. Unsere Mutter legte Gabel und Messer hin, wie bitte, fragte sie, du kannst es dir ja vorstellen, wir saßen da, sie stand auf, lächelte, als hätte sie einen hübschen Witz gehört, schob ihren Stuhl unter sich weg, doch bevor sie kehrtmachte, schüttete sie unserem Vater ein Glas Wasser ins Gesicht.
Nur damit du nüchtern wirst.
Sie hätten sich wirklich scheiden lassen sollen. Meine Schwester liebte unseren Vater, betete ihn an. Sie folgte ihm blindlings, obwohl sie nicht nur schlucken musste, dass er es gleichzeitig mit mehreren Frauen trieb, sondern dass ihn unsere unglückliche Mutter mit ihrer eigenen Hausschneiderin ertappte und einen Nervenzusammenbruch bekam. Sie konnten nicht verheimlichen, was da vor sich ging. Aber bloß kein Missverständnis, ich mache niemandem Vorwürfe.
Ich spüre es aber, spüre es an deiner Stimme.
Weil ich es so erzähle, wie ich es erlebt habe. Da ist sicher eine Verletzung, eine schmerzhafte, große seelische Verletzung. Mein eigener Vater will mich nicht. Und der Teil, den ich von meiner Mutter geerbt habe, ist illegal geworden und macht ihm das Leben sauer. Das ist entsetzlich, weil es meine Schuld ist. Er bemerkt mich gar nicht, beschäftigt sich mit unfasslichen Dingen. Bei denen ich ihn gestört habe. Unsere Mutter hingegen bringt es nicht fertig, auf ein solches Monstrum zu verzichten. Kaum waren zwei Tage vorbei, turtelten sie schon wieder miteinander. Das ist es meinetwegen, was du meiner Stimme anhörst. Von allen ihren Sätzen überlief es mich heiß, ich errötete an ihrer Stelle. Das spürst du. Und nicht einmal meine Schwester kam mit mir, sie widerstand mit aller ihrer unterschwelligen Kraft. Zum ersten Mal im Leben blieb ich ganz allein, auch das spürst du wahrscheinlich. Ich konnte zwar ein bisschen besser Französisch als sie. Aber das nützte auch nichts. Es war wie ein fremdes Haus. Du stehst in der Nacht auf und weißt nicht, wo der Lichtschalter ist. Das sind eher lächerliche Kleinigkeiten, und gleichzeitig riesig große Dinge, auch das spürst du wohl.
Er verstummte eine Weile, denn er hätte ihr erzählen müssen, wie sie über seine Fehler Buch führten, ihn jede Nacht verprügelten.
Die Verletzung war geblieben, das war das Stärkere.
Er drehte sich etwas zur Seite, um das Gesicht dieser fremden Frau nicht von so nahem sehen zu müssen, und nahm sogleich den leuchtend weißen Hals von Jean-Marie de Lecluse wahr, inmitten von Dampfwolken. Er stand mit seinen Gehilfen unter dem geräuschvoll prasselnden Wasser der Dusche und schaute ihn herausfordernd an. Er wusste, jetzt würden sie ihn wieder schlagen. Für einen Aussprachefehler eine Ohrfeige, für Grammatikfehler drei Ohrfeigen. Seine Hand mit der Seife erstarrte. Zehn Fehler konnte er mit einer Dienstleistung gutmachen. Er nähte Knöpfe an, putzte Schuhe, seifte ihnen den Rücken ein, das Erniedrigendste war das Radieren. Man pfiff ihn herbei, komm her, er musste mit seinem sauberen Radiergummi antreten und die Fehler der anderen ausradieren. Beim Freihandzeichnen und in der Geometrie durften sie sich im großen, ebenerdigen Zeichensaal frei bewegen. De Lecluse lieh ihn zuweilen aus, aber nur mit seiner Erlaubnis durfte er für andere radieren. Aus der Distanz beaufsichtigte ihn de Lecluse, ob er sauber arbeitete. Wenn er schlecht radierte, schmierte, weil der Gummi nicht sauber war, oder wenn er in seiner Hast das Zeichenpapier zerknitterte oder durchlöcherte, bekam er Kopfnüsse. Mit vier zusammengepressten Fingern auf den Schädel, als wollten sie ihn einschlagen. Oder Radieren war auch gerade die Strafe. Sie zogen ihm den eigenen Gummi über den ausrasierten Nacken, der Gummi zog die Borsten mit. Für de Lecluse war das Spiel am lustvollsten, wenn er vor Schmerz zischte oder flehte, sie sollen aufhören. Dann verbreiteten sich auf de Lecluses milchweißer Haut die roten Flecken der Erregung. Er verstand nicht, warum ihm das
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