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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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verdichtet wiederaufgetaucht. Die Frau verstand das, verstand es genau: Sie kam ganz nahe an den Augenblick heran, als er auf der sonnenbeschienenen Treppe des Internats innerlich nach seinem Vater gerufen hatte, er solle ihn nicht alleinlassen, bloß jetzt nicht. Gerade weil sie spürte, welch ein wichtiger Augenblick es war, ließ sie sein hartnäckiges Zucken nicht in sich herein. Sie spürte genau die unverdauten Qualen, ihre Höhen, ihren Gipfel, die hilflose Sehnsucht. Und wie jemand, der sich aus der Tiefe eines sonnendurchfluteten vertrauten Wassers nach oben strampelt, mit dem angespannten Körper einen Bogen zwischen dem Flussbett und der fernen Oberfläche schlägt, fand sie unter ihren eigenen Vorstellungen Gleichnisse für das, was sie beim Mann spürte. Sie spannte sich mit elastisch gespreizten Beinen über ihn, schützte ihn damit, gab ihm ein Heim, öffnete einen Schirm, und wenn er näher kommen wollte, entfernte sie sich, wenn er sich zurückzog, ließ sie sich etwas auf ihn hinunter, aber nie ganz.
    Ágost packte ihre Hüfte mit beiden Händen, um sie grob herunterzureißen.
    Pass auf, dass ich nicht grob werde, zischte er.
    Wenn du es nicht aussprichst, kannst du es vergessen.
    Ich darf mir nichts erhoffen.
    Das jedenfalls nicht.
    Wir können ja ausprobieren, wer mehr Macht hat über den andern. Mehr Kraft.
    Na, das fehlte gerade noch.
    Für einen Sekundenbruchteil maßen sie sich wie Gegner. Bei diesem Blick war die Frau die Stärkere, daran bestand kein Zweifel. Was nachträglich und im Voraus vieles verriet. Und mancherlei Schein zusammenbrechen ließ, sie stürzten ab, aber das Aufschlagen war lustvoll und leicht. Trotzdem wurden sie handgemein, als kämpften sie wirklich. Durch ihre Körper drang das Pulsieren, das Zittern des Erdinnern, das allmählich das Haus, die Luft, die Wand, die Scheiben und das Bett schüttelte, über ihre Haut vibrierte und fast schmerzlich an ihr Trommelfell klopfte. Beide ließen ihre Kräfte frei. Ihre Verletztheit, ihre Einsamkeit, ihr Beleidigtsein, alles, was sich in vier Tagen in ihren Muskeln als Schlacke niedergeschlagen und ihre Nervenstränge angespannt hatte. Das alles ließen sie auf ihre Bewunderung füreinander los. Aber eine Prügelei war es doch nicht.
    Einander fressen, falls noch möglich.
    Ihre tierische Wildheit eröffnete neue, befreiende, unbekannte Schichten der Lust. Ein riesiger, geöffneter Rachen näherte sich ihnen mit höllischem Geröchel, ging auf und zu. Und kam mit gleichmäßigem, unablässigem Rattern und ausdauerndem Pusten näher, von weit her.
    Er würde sie verschlucken. Gyöngyvér kannte den Lärm, Ágost konnte ihn nicht kennen.
    Aber in dieser Situation traf er sie doch unvorbereitet. Als kröche er mit seinem entsetzlichen Gebiss aus der tiefsten Tiefe der weltbedeckenden Nacht hervor. Ein Höllenzeichen, das sie bisher kaum beachtet hatte. Ein Himmelszeichen. Ihre Glieder rutschten, tauchten ineinander ab. Mit der Zunge, mit klaffenden Lippen, mit Zähnen und Gaumen rückten sie ineinander vor, sie suchten nicht bloß, sie fanden auch, aber was, konnten sie nicht sagen.
    Bei der Belagerung von Budapest waren die Häuser der Neuleopoldstadt von größeren Luftangriffen glücklich verschont geblieben, Volltreffer hatte es praktisch keine gegeben, auch wenn die durch Balkone, Loggien und Wintergärten unterteilten Fassaden bei den Straßenkämpfen nicht ungeschoren davongekommen waren.
    Die vielen kleinen Beschädigungen waren jetzt in dem vom Laub der Bäume beschatteten Lampenlicht nicht zu sehen.
    Frau Szemző genoss die vertrauten Sommergerüche, es hätte fünfundzwanzig Jahre zuvor sein können. Die Fenster leuchteten anheimelnd auf die Straße heraus. Um diese Zeit war das Viertel noch belebt. In den offenen Toren lungerten junge Burschen herum, Paare spazierten umschlungen in Richtung Ringstraße oder kamen gerade mit ihren lärmenden Kindern, mit Rollern, Bällen, Dreirädern von der Margareteninsel zurück. Gyöngyvér hatte sich getäuscht, es war noch kaum neun Uhr vorbei. Die Straßenbahnlinie fünfzehn verkehrte seit Menschengedenken mit einem einzigen Wagen zwischen der Váci-Straße und dem Leopoldring, der später Szent-István-Ring hieß. Zwischen den stark widerhallenden, glatten, nüchternen Hauswänden rumpelte und rasselte sie über ihre in den leuchtend gelben Belag gebetteten Schienen.
    Aber der wahre, tief unten anschwellende Lärm rührte nicht daher.
    Auf der anderen Seite der schweren Masse der

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