Parallelgeschichten
aus den zehner Jahren stammenden Palatinus-Häuser näherte sich auf der Höhe der Margaretenbrücke ein Schlepper, und sein sich übers Wasser verbreitender, auch die Kaimauern erschütternder fürchterlicher Lärm sickerte durch Seitenstraßen zwischen die Häuser hinein. Wer in diesem Stadtviertel wohnte, war daran gewöhnt, wie der Lärm kam, vorüberzog und über dem Fluss langsam erstarb.
In diesem Stadtviertel gingen die Leute abends spazieren, an den Fluss hinaus oder auf den Leopoldring zum Schaufenstergucken. Frau Szemző machte es nichts aus, dass ihr die Straßenbahn vor der Nase abgefahren war. Warum nicht über die Brücke nach Buda hinüber, den kastanienbeschatteten Margareten-Kai entlang und über die Kettenbrücke zurück. Sie ging immer zu Fuß in den nahegelegenen Szent-István-Park, wo ihre Freundin schon seit Mitte der dreißiger Jahre eine große Wohnung im siebten Stock hatte. Die Straßenbahn nahm sie nur, wenn es regnete. In jenen Urzeiten hatte sich die Gesellschaft einmal wöchentlich in Gräfin Mária Szapárys Wohnung getroffen, nach der Belagerung immer häufiger, und nach dem denkwürdigen Silvester siebenundfünfzig sozusagen jeden Abend, außer man ging jeder für sich oder gemeinsam in die Oper oder ins Konzert, jedenfalls mindestens viermal in der Woche. Morgens murrte der Hauswart, die Frau Gräfin möge entschuldigen, aber dieses Toraufschließen in aller Herrgottsfrühe mache er nicht mehr mit, und er werde auch der Hausverwaltung mitteilen, dass er es nicht mehr mitmache. Das war eine ziemlich schwere Drohung. Und doch, wie gut, dass niemand mehr dreinreden konnte, auch der Hauswart nicht. Jedenfalls hätte eine Anzeige nicht viel bewirkt, diese Zeiten waren jetzt vorbei, oder würden es hoffentlich demnächst sein.
Aber die Gräfin verzieh ihm seine unangenehmen morgendlichen Auftritte nicht. Bei sich bietender Gelegenheit setzte sie ihm den Kopf zurecht.
Passen Sie mal auf, Varga, sagte sie, wobei sie dem überraschten Mann zwanzig Forint in die Hand drückte, ich habe Ihnen schon einmal gesagt, dass Sie zwei Möglichkeiten haben. Entweder Sie machen meinen Gästen das Tor höflich auf und geben brav Ruhe, oder Sie händigen mir einen Schlüssel aus, und ich mache selber auf.
Das riskierte der Hauswart nicht, und nicht unbedingt aus dem Grund, den er angab.
In der Tat war ihm streng verboten, den Bewohnern einen Torschlüssel oder auch nur einen Aufzugschlüssel auszuhändigen.
Aber das Verbot hätte er missachten können. Vielmehr fürchtete er, er könnte um die mit seinem Murren herausgepressten Zehner und Zwanziger kommen.
Wollt ihr einen Gin Fizz, fragte Mária Szapáry aus der Küche kommend beiläufig.
Sie blieb unter dem zu starken Licht der Deckenlampe stehen.
Ausnahmsweise habe ich Zitronen.
Die so angesprochenen zwei Frauen waren auf der riesigen Dachterrasse im Dunkeln in eine Plauderei vertieft.
Die eine, in einem reich plissierten blauen Trachtenrock und einer etwas volkstümlich geschnittenen, schneeweiß gestärkten Bluse mit Puffärmeln, auf dem kühnen Dekolleté eine Korallenkette und einen breiten weichen Ledergürtel eng um die Taille, in der ganzen Erscheinung lag etwas stark Theatralisches, drehte sich mit einem Dauerlächeln gereizt um.
Wollen tun wir sicher nichts, Mária, aber was mich betrifft, wäre ich tatsächlich gern für einen Gin Fizz zu haben.
Ich schließe mich an, rief die andere Frau, die trotz ihres feingemusterten, üppig fallenden dunklen Seidenkleids eher als bescheidene, unbedeutende Person erschien.
Der Gin Fizz bedeutete, dass sie wieder lebten, wie man unter normalen Umständen leben sollte.
Sie durften sich überflüssige Dinge erlauben.
Ihre nackten Ellenbogen auf dem Geländer berührten sich leicht. Bis dahin hatten sie eigentlich nicht zueinander, sondern einfach ins Dunkel hinaus für sich selbst geredet. Beide waren über die sechzig hinaus, ihre Haltung hatte aber die einstige Leichtigkeit bewahrt, was nicht nur auf viel Arbeit beruhte, sie turnten, wanderten, schwammen vormittags im Lukács-Bad, sondern auch auf verschiedenen Kunstgriffen. Ihre Abende begannen sie leichthin, gaben auf ihre Erscheinung acht, aber die Spannung zwischen ihnen war deutlich spürbar. Der seltsame Widerstand oder die Gereiztheit, die alternde Menschen beieinander hervorrufen. Die strengen Regeln des Kartenspiels ließen keine Gespräche zu. Sie verschonten sich mit ihren Alltagssorgen, und damit möglichst wenig davon sichtbar
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