Parallelgeschichten
hätte er den Mut gehabt.
Hier war es am hellsten, vielleicht war der Platz deshalb leer geblieben. Während die Reihe zu beiden Seiten davon in das von Uringeruch beißende und von Teergestank tiefe Dunkel hineinreichte.
Dorthin setzte er sich in Bewegung, geradewegs ins Dunkel, dorthin, wo in der tiefsten Tiefe der Nacht Wasser auf Porzellan tropfte. Er wählte den gefährlicheren Platz, wo er aber mit seinem persönlichen Schamgefühl, das er den Menschen gegenüber empfand, verschwinden konnte, mit seinen unpersönlichen Sehnsüchten hingegen vor Gottes Angesicht gelangte.
Er hoffte, dass ihn das warme Dunkel beschützen würde, dass er sich in seiner Lust den anderen nicht auszuliefern brauchte, niemandem.
Da erkannte er in der geschlossenen Reihe den Gehilfen des schnurrbärtigen Riesen, den großen struppigen Kopf zwischen den sich ihm zuwendenden Köpfen. Im Gegensatz zu den anderen hatte er sich mit dem ganzen Körper ein wenig umgedreht, und damit zeigte er auch seinen Schwanz her, wie ein Emblem.
Der Gehilfe konnte ja nicht eine Sekunde daran zweifeln, dass er zu ihnen gehörte.
Seinen Schwanz hielt er als letztes Argument bereit, für den Fall, dass ich mich noch nicht entschieden hätte. Schließlich muss man ja entscheiden, wie man sein Leben gestalten will. Der Anblick des Emblems war wie der eines vertrauten alten Freundes.
Und bei diesem Anblick durchfuhr ihn wie ein Heimweh das eisige, heiße Entsetzen, dass also im besten Fall auch der nach Teer riechende Riese in dieser Reihe stehen könnte, mit seinem Quadratschädel und dem hoch ausrasierten Nacken.
Er, mit dem er vielleicht doch sein ganzes Leben verbringen würde, wie er trotz allem hoffte.
Auch in den hatte er sich sofort verliebt und wäre um dieser Liebe willen zu allem bereit gewesen, bereit, über seinen eigenen Schatten oder den der Götter zu springen.
Das Auge gewöhnt sich relativ rasch ans Dunkel. Jetzt sah er den Riesen tatsächlich dastehen, auf verwirrende Weise ungezwungen, mit gespreizten Beinen, die Arbeiterhose hinuntergelassen, und ausgerechnet neben ihm in der Reihe war der Platz frei, den er jederzeit einnehmen konnte.
Dieser Platz war für ihn.
So viel Glück hatte ihm das Leben noch nie gewährt. Als hätte er in langer, gründlicher Forschungsarbeit ein unbekanntes Element entdeckt, das, o Wunder, genau in Mendelejews Periodensystem hineinpasste. Sein mit feuchten Zähnen aufblitzendes Lächeln durchleuchtete sogleich das stinkende Dunkel.
Es war ein Locken, komm, das animalische, rohe Versprechen seiner Gutmütigkeit, ein Vorschuss, aber gleichzeitig ging von ihm auch drohende Kälte, der eisige Hauch des Wahns aus, denn es bedeutete, du bist in der Falle, du entgehst deinem Schicksal nicht.
Ich brauchte diesen Mann bloß anzusehen und war tatsächlich in der Falle. Alles war im Voraus festgeschrieben. Im finsteren Universum war ein Platz leer geblieben, diesem Wunderriesen war es anvertraut, ihn zu hüten, ihn mir frei zu halten, es war mehr als unvermeidlich, seine Güte und Fürsorge zwangen mich geradezu, den Platz einzunehmen.
Er lauschte, war auf der Lauer, wollte noch vorsichtig sein, aber niemand in ihm wehrte sich gegen diesen ernsten Zwang. Er wusste, er würde nachgeben, trotzdem beobachtete er kühl, ob sich nicht ein Komplott gegen ihn abzeichnete. Auch das Wasser sträubt sich nicht, wenn es Spalten und Vertiefungen auffüllt, aber es tut es langsam. Er fürchtete, der Riese und sein Gehilfe würden ihn hereinlegen oder ihn ganz einfach lächerlich machen, auslachen, vielleicht verprügeln, falls er ihnen auf den Leim ging.
Obwohl doch sein Zögern viel eher von der obligaten Befangenheit des Verliebten herrührte.
Würde wohl dieses mit einem wunderbaren Lächeln gesegnete, vollkommene Menschenexemplar mich und meine Unvollkommenheit ein ganzes Leben lang akzeptieren, oder wäre ich nur eins seiner nächtlichen Abenteuer, die er anderntags vergessen hätte.
Aber sein Lächeln war im fiebrigen Dunkel wie ein Schicksalsbefehl.
Unterdessen beobachtete mich zwischen den mir zugewandten Köpfen auch sein schnurrbärtiger Gehilfe.
Der Zweifel war nicht angebracht, seine Nähe war jegliche Demütigung wert. Beim Anblick seines karierten Hemds spürte ich im Voraus den heißen Duft seines wilden Körpers, seiner mächtigen, starken Glieder, oder vielleicht war ich nur vom Geruch der geteerten Wand so erfüllt.
Jegliche Demütigung, ja, meine ganze Zukunft für eine einzige Berührung.
Komme
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