Parallelgeschichten
was wolle. Ich werde es vor aller Augen tun. Denn alle beobachteten mich, um zu wissen, wohin ich gehen, wen ich wählen, was ich tun würde.
Doch in dem Moment, oder vielleicht noch kurz vorher, als er einen Schritt machen wollte, um in der Phalanx der Männer, die in den heimlichsten Krieg der Nacht aufgebrochen waren, seinen vorbestimmten Platz einzunehmen und mit seiner Gegenwart die Lücke der Wartezeit zu füllen, geriet, als würde sie von einem Windstoß angerührt, die Wand in Bewegung, löste sich auf. Aus den Tiefen des Pissoirs war gereiztes Flüstern zu hören, Entrüstung, jemand protestierte heftig fluchend gegen etwas, das man mit ihm machen wollte, und gleichzeitig kam ein grauhaariges Männchen zum Vorschein, in einem aus der Hose hängenden hellen Hemd, den steifen Schwanz in der Hand. Seine handgenähten Schuhe quietschten komisch, und im Nu schloss er die Reihe an dem Platz, den das Schicksal eigentlich mir bestimmt hatte.
Er nahm mir weg, was mir der schwarzhaarige Riese also doch nicht geben konnte, da es anders bestimmt war.
Die Schönheit und Ironie eines ewigen Versprechens, Enttäuschung, Mangelgefühl und Betroffenheit blieben anstelle der angebotenen und verpassten Chance zurück. Gleichzeitig tauschten andere ebenfalls die Plätze, aber so rasch, dass man gar nicht verfolgen konnte, aufgrund welcher Vereinbarungen, welcher im Dunkeln zwischen den Schatten stattfindender Wechselwirkungen das geschah. Der einzige mögliche Platz öffnete sich ganz woanders, zwischen ganz anderen.
Drei andere wären zwischen uns gewesen.
Doch es war eine Charakteristik der Spiele der Nacht, dass man die Herausforderungen des Zufalls annahm, der hinter den heimlichen Absichten und dauernden Platzwechseln steckte, lieber verlor man sich, als dass man sich gefunden oder erkannt hätte. Mir blieb nichts anderes übrig, als den leer gewordenen Platz einzunehmen.
Wenigstens den.
Ich weiß nicht, wie es anders hätte sein können, aber noch weniger begriff ich das, was war. Was geschah, konnte man zwar sehen, aber das Wesen der Dinge blieb nach wie vor ein Rätsel. Hier standen wir, in diesem langen schmalen Raum, mit dem Rücken zum beleuchteten Ausgang. Die Reihe war jetzt geschlossen, Mann neben Mann. Zwischen den kampfbereiten, auf einen Befehl wartenden Kriegern zitterte ich und versuchte mit zusammengepressten Zähnen mein Zittern zu beherrschen. Es war wie ein Traum, den man bis zum nächsten Tag glücklich vergisst, bloß war es kein Traum. Wir alle taten so, als wollten wir gerade an diesem verlassenen Ort, gerade zu dieser späten Stunde Wasser lassen, oder als hätten wir es gerade hinter uns gebracht und wollten gleich gehen.
Wieder herrschte große Stille, kaum dass man irgendein kleines Geräusch hörte.
Ich starrte auf die geteerte Wand, meine Augen gewöhnten sich langsam ans Dunkel. Allmählich konnte ich es von Schwarz unterscheiden.
Wenigstens sein schnurrbärtiger Gehilfe steht neben mir, tröstete ich mich.
Der Riese mochte vom Land sein, in seinem Blaumann wirkte er seltsam in dieser Nacht, sein Gehilfe hingegen sah eher nach Budapest aus, nach einem fernen Außenviertel. Seinen Händen nach zu urteilen übte er ein feineres Gewerbe aus, Drechsler oder Mechaniker. Hinter der fleischigen Nase, dem großen ungarischen Schnurrbart waren seine Züge ausgesprochen kindlich und zärtlich. Abgesehen von der Stirn und dem Kinn, die waren beide wuchtig, fleischig, trotzig. Auf seinem festen Unterarm hatte er eine Tätowierung, ein Wappen oder eine Blume, es war nicht ganz klar. Das alles hatte ich in den vorangegangenen Nächten heimlich beobachtet. Auf seine behaarten Fingerglieder war je ein Buchstabe tätowiert. Vielleicht ein Frauenname oder sein eigener Spitzname. Zwischen uns stand ein etwas nervös wirkender, plump und idiotisch aussehender, hellblonder junger Mann, der sich mir in einer der Nächte unter den gelben Blüten des Goldregens sachte genähert hatte. Er hatte etwas von einem Wildschwein. An seinen Lenden, an seinen kurzen Fingern wuchsen spärliche helle Borsten. Auch sein Haar bestand eher aus hellen Borsten, es ragte widerspenstig von seinem Kopf weg. An seinem ungeschlacht kurzen, gedrungenen, von prallen Adern überzogenen Schwanz leuchtete rot eine unverhältnismäßig kleine, spitze Eichel.
Er hatte sich mir unbemerkt genähert und mich erschreckt, wovon er selbst erschrak, ja, fast zusammenklappte, hätte er sich nicht an den seidigen Stamm eines dünnen
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