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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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ihr tatsächlich oft über den Mund fuhr, jetzt hört schon auf, Mutter, schwatzt mir doch nicht die Ohren voll, aber auch so vergaß Madzar die mütterliche Ermahnung nicht.
    Als ließe er es absichtlich in tiefere seelische Schichten absinken.
    Seit er wieder durch die sonnengepeitschten Straßen seiner Geburtsstadt ging, unter den kaum Schatten spendenden, kugelförmigen Ulmen, zwischen geschlossenen Fensterläden und heruntergezogenen Rollläden, spitz aufragenden Fassaden, hohen Steinmauern und düsteren Plankenzäunen, hermetisch geschlossenen Toren und wie uneinnehmbare Befestigungen aufragenden Einfahrten, während seine Schritte vom unversöhnlichen Bellen und Heulen der sich in widerhallenden, geschlossenen Höfen aufhetzenden Hunde begleitet wurden, konnte Madzar keine Zweifel über das Ausmaß des hiesigen Unglücks haben.
    Sein urbanistisches Interesse wurzelte in dieser eigenartig angelegten Kleinstadt, aber in der Fremde erinnerte er sich doch nur an ihre großen Linien, an die Originalität ihrer Struktur oder an den luftigen Ton der unter dem weiten Himmel lärmenden Uferschwalben.
    An das wunderbare Gefühl, das ein sicherer Platz auf der Welt und der Anblick des freien Flugs verschaffen.
    Jedes Stadtviertel war von einer launig kurvigen, breiteren Straße eingesäumt. Wenn sich ein Fremder ins Labyrinth dieser voneinander abgesonderten Leben verirrte und den eigenartigen Bögen der Straßenführung folgte, erreichte er in jedem Fall das Herz des Viertels, den von einer Kirche flankierten Marktplatz. Vom alten Mohács waren fünf kleine Plätze mit je einer Kirche übrig geblieben. Aus der Distanz seiner zwölf in der Fremde verbrachter Jahre begann Madzar allerdings zu ahnen, dass der Grundriss der Stadt zwar lebhaft und geistreich sein und wegen der strengen Trennung nach Glaubensgemeinschaften und Volksstämmen eine höchst abwechslungsreiche Architektur aufweisen mochte, alle die sinnvoll und rhythmisch gegliederten Blöcke von Wohnhäusern, Scheunen, Kornspeichern und Ställen, was das Stadtbild mit einer Art mediterraner Nüchternheit und Leichtigkeit durchwirkt, dass das alles aber nichts brachte, da diese angenehmen Grundeigenschaften doch von einer jahrhundertealten Kriegsstimmung geprägt sind.
    Mohács ist tot im Gemüt.
    In den Mauern und der Stadtanlage klang noch eine frühere Stimmung an, wenn auch kaum mehr wirksam seit der türkischen Besatzung vier Jahrhunderte zuvor, und vielleicht überhaupt nicht mehr wirksam seit dem Beginn der serbischen Herrschaft nach dem Ersten Weltkrieg. Die Ungarn mochten zwar die Stadt zurückerobert haben, aber sie nahmen sie nicht mehr in Besitz. Die Stadt lebte nunmehr in abgeschlossenen, vom Hundegekläff erfüllten Höfen. Es lag auf der Hand zu sagen, die Stadt trage das Mal ihrer Zerstörung im Jahr fünfzehnhundertsechsundzwanzig an der Stirn, einer Zerstörung, die später zum historischen Symbol der letzten Stunden des unabhängigen Königreichs Ungarn wurde. Aber aus der Fremde zurückkehrend sah es Madzar eher umgekehrt. Mit ihrem historischen Ballast trug die Stadt auch sämtliche Vorbedingungen ihrer Zerstörung in sich.
    Das Trauma, die Erschütterung verstellten die Sicht auf die Voraussetzungen der Katastrophe. Deshalb war die Stadt selbst nach so vielen Jahrhunderten sämtlichen Erschütterungen ausgeliefert. Das war eine Erkenntnis, mit der sich Madzar fast selber erschreckte. Er spürte, dass er die Eigenschaften seiner Geburtsstadt schon immer in sich getragen hatte, und zwar nicht nur das Gefühl der Zerstörung, sondern auch die unbewussten Voraussetzungen dafür.
    In ihrer sanften, schönen Umgebung erschien die Stadt bedrohlich und bedroht zugleich. Nicht missgestimmt, nein, sie war gemütstot. Sie öffnete den Mund nie zum Reden, schloss nie die Augen, nur die wahnsinnige Einsamkeit ihrer Bewohner lebte in ihr; sie war in Wachen und Abweisung erstarrt. Aber ob sich ihm die Stadt mit ihrem persönlichen oder mit ihrem historischen Gesicht zuwandte, in jedem Fall störte sie Madzars utopische Vorstellungen von Mobilität und ausgeglichener Gesellschaftsordnung.
    Er wies diese Gedanken von sich, bemühte sich, alle derartigen Gedanken von sich zu weisen, denn sonst hätte er sich sagen müssen, dass er wohl zum Teil seine eigene Mentalität in der Stadt erblickte, ja, dass er eine beträchtliche Portion dieser Mentalität nach Amerika mitnehmen würde, wo er dann mit einer angekränkelten Utopie bestimmt auf keinen grünen Zweig

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