Parallelgeschichten
ihm nicht neu war.
Bellardi spielt sich selbst etwas vor.
Wäre seine Erziehung nicht auf halbem Weg zwischen Provinzadel und großer Welt steckengeblieben, hätte er seine bürgerlichen Mitmenschen locker verachten oder, noch besser, als Luft betrachten können. Doch die Zweideutigkeit seiner Erziehung gestattete ihm keine dieser Methoden, und so war er dauernd von sich selbst enttäuscht. Sein Benehmen war dank der Bemühungen seiner Mutter für eine viel größere Bühne berechnet als er je zur Verfügung hatte, ja, als er je zu sehen bekam. Nur durfte er sich über die Kleinkariertheit der Schauplätze und Umstände nicht beklagen, so wie es die anderen in der ganzen großen Österreichisch-Ungarischen Monarchie taten. Ihm war ausdrücklich verboten, anderen die Verantwortung zuzuschieben. Obwohl das der traditionelle
bon ton
war. Er musste jede Situation kommentarlos akzeptieren. Durfte nicht intrigieren, wie sonst alle in seiner weiteren Umgebung, nicht nach Herzenslust tratschen, nicht böswillig herumreden. Dass er damit unablässig auf eine lebenswichtige seelische Funktion verzichtete, wusste er nicht.
Er lebte im Glauben, christliche Demut zu üben, eine wackere Sache, die ja ebenfalls zu den Aufgaben seines der Kirche verpflichteten Rangs gehörte.
Jedenfalls nahm er den Schein dieser Tugend als Medizin gegen die Selbstverachtung und den Menschenhass, was seine Seele geradezu folterte, seinen gesunden Verstand strapazierte und ihn zuweilen hinriss, andere tödlich zu verletzen. In seiner Kindheit hatte Madzar die Maßlosigkeiten von Bellardis spielerischem Instinkt mit wonnevollem Schauder beobachtet. Auf diese Spiele war er nur bis zu einem gewissen Grad eingegangen, hatte aber seine gefährliche Überverfeinerung und dekadenten Exzesse ebenso genossen wie die Verstellungen und phantasiereichen Grausamkeiten. Oder die erschreckenden, wenn auch immer nur kurz auftretenden Wutanfälle.
Ein einziges Mal hatten sie trotzdem eine Grenze überschritten, von wo aus es in moralischer Hinsicht weder für Madzar noch für Bellardi ein Zurück gab.
Alles nur antippen, nimm’s leicht, du kannst nur besitzen, was dich nicht berührt. Müh dich nicht mit dem Vergessen ab, nach drei Tagen verliert sogar der Schmerz die Schärfe.
Und wer in Mohács hatte ein solches Auftreten außer ihm, niemand.
Ein ernsthafter Mensch belastet in der Gesellschaft seine Mitmenschen nicht mit Dingen, die sie ernst zu nehmen brauchen. Höchstens kurz daran rühren. Wenn man in Stil oder Ton scheinbar doch auf eine ernstere Ebene gerät, sorgt man dafür, dass rechtzeitig der Scherz hervorgrinst oder die bewusste Berechnung, manchmal auch rohes Interesse oder unverhülltes Machtstreben.
Jeder konnte sehen, was Bellardi da trieb, aber seine Schamlosigkeit verstärkte noch die Wirkung.
Aber verglichen mit früher war der Kapitän offensichtlich ermüdet, fast schon lustlos.
Dank seiner Auslandsaufenthalte und abgeschlossenen Projekte durchschaute Madzar dieses Rollenspiel vielleicht deutlicher als andere. Als strahlte dieser Mensch Bellardi von jeher seine inneren und äußeren Gegebenheiten in zwei parallelen Programmen aus. Wahrscheinlich aus Selbstschutz. Seine Erziehung entsprach weder seiner gesellschaftlichen Stellung noch seinem Naturell. Immerhin hatte er einige schauspielerische Mittel zur Verfügung, mit denen er den Schein seiner Besonderheit und Privilegiertheit aufrechterhielt, und in seiner von Rechtlosigkeit, Korruption, Hass, Empfindlichkeiten, Gedemütigtsein und kleinlichem Neid durchtränkten Umgebung waren die anderen ebenso auf diesen Schein angewiesen wie er selbst. In dem einen Programm lief mechanisch seine Erziehung ab, die er immerhin einer königlichen Herzogin, seiner Mutter, verdankte, im anderen, ebenso mechanisch, seine naturellbedingten Bedürfnisse, und wie es einem monarchischen Polizeistaat ziemt, wurden diese Programme von jemand Drittem überwacht, einem Geheimpolizisten.
Damit Naturell und Erziehung in keinen Dialog traten.
Über seiner goldbetressten, weiß-dunkelblauen Uniform trug er das Gesicht eines charmanten Halbwüchsigen, das jetzt schon recht zerknittert, vielleicht sogar zerquält aussah. Diese Zerknittertheit gab Madzar jedes Mal einen Stich ins Herz, er liebte ihn dafür, und das wiederum zauberte die verliebte Jugendzeit zurück. Die Zeit veränderte sein inneres Bild von Bellardi zwar nicht, aber auf dessen wirklichem Gesicht erblickte er jedes Mal das Ende seiner Jugend. Und
Weitere Kostenlose Bücher