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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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heiraten, eine hübsche Frau, die ihm Kinder gebar und unmerklich so wurde, immer feister, dümmer, lauter.
    Madzar war nicht dem Anlass entsprechend gekleidet, er trug einen einfachen Reiseanzug, weit geschnittene, gebauscht fallende Knickerbocker und ein hochgeschlossenes Jackett mit sechs Knöpfen, einem abgenähten Gürtel, einer Balgfalte hinten und aufgenähten Taschen, eine etwas weiter oben schließende Weste und dazu dicke, zum fahlgrünen Ton des Fischgrätenmusters passende Kniestrümpfe und Schnürschuhe mit dicken Sohlen, aber außerhalb der Saison war ein solcher kleiner gesellschaftlicher Ausrutscher schon gestattet.
    Er fühlte sich dennoch ein wenig unbehaglich.
    Auch das Abendessen wurde früher aufgetragen, als es während der Saison an Bord eines Luxusschiffs üblich war.
    Es hätte im Übrigen keinen Sinn gehabt, für diese kurze Reise eine Kabine zu mieten.
    Er reiste ohne Gepäck.
    Seinen Umhang und seine Mütze nahm ihm der alte Wiener Kellner ab, der dauernd in verschiedenen Sprachen vor sich hin murmelte und ihn unter ziellos abgehaspelten Worten zu László Freiherr und Ritter von Bellardi führte, dem Schiffskapitän, der sich, sobald er sie kommen sah, mit ein paar höflichen Worten von der lauten serbischen Tischgesellschaft verabschiedete.
    Geschützt durch sein bezauberndes Lächeln, hatte er schon seit Minuten ungeduldig, ja, fast wütend auf Madzar gewartet, wann kommt der endlich, um ihn von der Last seiner Verpflichtungen zu befreien, wo bleibt der so lange.
    Nicht, dass er jemanden gebraucht hätte, der ihn loseiste, aber ohne Ausflüchte und Vorwände konnte er sich nicht zurückziehen. Aufgrund seiner Erziehung war die Pflicht für ihn die höchste Instanz. Aber jetzt hätte er doch lieber mit seinem ehemaligen Freund geplaudert als mit Geheimrat Elemér Vay, mit dem ihn auch entfernte familiäre Bande verknüpften.
    In den Bereich der Pflicht gehörten Gott, Glaube, Vaterland, das Wohlergehen der Bürger. Er durfte nichts tun, was in den Augen der Welt keinen konventionellen Grund oder zumindest keine konventionelle Erklärung gehabt hätte. Gesellschaftliche Erfordernisse, die nicht mit seinem zu Willkür und Improvisation neigenden, eigentlich unbeständigen und intuitiven Naturell harmonierten. Er wurde von Wutanfällen geplagt, denn wie kann man als freiwillige Pflicht ansehen, was man gezwungen ist zu tun. Und seit ihn seine Frau verlassen hatte, saßen nur noch Schrecken und Entsetzen in seinem Körper und seiner Seele. Aber das alles sah man ihm nicht an, weder seiner Haltung noch seinem Gesicht. Allerdings verdüsterte sich seine Miene, während sie aufeinander zugingen.
    Wie jemand, der während des Übergangs von der einen zur anderen Rolle nur seine leere körperliche Hülle behält.
    Unter der geheimen seelischen Last war die schöne, hochgewachsene Gestalt zusammengesackt, auf seinen Lippen zeigte sich Bitterkeit.
    Aber auch hinter dem Schein war nichts anderes als wiederum Schein.
    Von Ereignis zu Ereignis absolvierte er gleichsam methodisch eine aus Schein zusammengetakelte Geschichte, die mit seinem Innenleben oder seinen individuellen Bedürfnissen nicht viel zu tun haben konnte und doch zu seiner Lebensgeschichte wurde. Hatte er etwas dem Schein gemäß erledigt, sagte er sich ein wenig erschrocken, ein wenig selbstzufrieden, na, auch das hätten wir geschafft. Er verhielt sich, als wäre der höchste Wert des persönlichen Lebens das Überleben einer unpersönlichen Mehrzahl.
    Als hätte bei ihm das Wir-Gefühl die Oberhand über das Ich-Gefühl gewonnen. Er schritt einher, als zöge ihn das Gewicht seines Kopfes.
    Bis er zwischen zwei schaukelnden Tanzschritten zu einem anderen bereitgehaltenen Lächeln überging. Und zeremoniell den Kopf hob, denn das war längst nicht er, der hinter der traurigen Maske hervorlächelte, nicht er ließ seine Schritte tänzeln, sondern seine Rolle. Jetzt würde er dem Publikum, das die Begegnung der beiden Freunde gierig verfolgte, die wahre Aufmerksamkeit, die echte Herzensgüte vorführen.
    Aber höchstens die Hochzeitsreisenden beobachteten aufmerksam, denn in ihrer Verstörtheit beobachteten die alles.
    Die Aufmerksamkeit Fremder ließ Bellardi wachsen, er brauchte sie wie die Luft, er verlieh sich gewissermaßen Bedeutung durch sie, sie füllte jede seiner Bewegungen, seine sterbliche Hülle mit Fleisch und Blut, mit Lebenshunger, Lebensdurst.
    Madzar war von dem entlarvenden Schauspiel peinlich berührt, auch wenn es

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