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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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träume.
    Aus Angst schlief er in seiner Bank ein, um nicht Dinge hören zu müssen, von denen er nicht das mindeste verstand.
    Man traktierte ihn.
    Und doch schien es angenehmer, das Traktiertwerden zu ertragen, als die hebräischen Verse aufzunehmen, er konnte ihnen noch so nachlaufen, sein Gehör erreichte sie nicht, er konnte sich nichts merken, nichts ohne Buch aufsagen wie die anderen. Bevor er einen Vers erwischt hätte, war schon der andere da. Er begriff nicht, woher in den Köpfen der andern Jungen diese Geschwindigkeit kam. Hingegen lernte er sehr rasch, dass er sich nicht auf Kopfweh zu berufen brauchte. Auch wenn von der zitternden Anstrengung, die eiligen Wörter der hebräischen Verse zwischen die ungarischen und jiddischen Tonfälle einzukeilen und mit dem Verstand festzumachen, sein Kopf tatsächlich fast platzte. Der Schmerz warf weiße Ringe, durch die er in eine Leere undefinierter Farbe sah. Wenn es gelang, wenn er durch die leuchtenden Ringe hindurch ins lockende Dunkel hinübergelangte, wenn er durch das Blitzen seiner eigenen Pupillen hindurchsah und ins Rot und Grün gelangte, wurde er immer wieder davon hochgeschreckt, dass man ihn mit Wasser begoss und traktierte, und auch zu Hause würde man ihn verprügeln und zerren und stoßen.
    Er hätte nicht sagen können, wann das alles lustvoll wurde, er hatte nie, weder vorher noch nachher, eine parallele Welt kennengelernt, in der die Dinge anders waren oder auch hätten anders sein können, aber trotzdem. Der Nebel löste sich nie auf, ein Leben lang suchte er die Gewissheit, dass er die Texte richtig verstand, dass er sie wirklich konnte, und auch wenn er diese Gewissheit nie fand, da er zum Wissen zu wenig gebildet war, fand er in der endlosen Suche doch seine Lust.
    Während er die ungarische Fußnote zum gesuchten und auch gleich gefundenen Mussafgebet las, laut der man im Nachlass des aus dem deutschen Bonn stammenden Rabbi Ephraim eine Erläuterung zum Ursprung des Gebets gefunden hatte, nahm er nicht zur Kenntnis, dass seine Frau wütend aufzischte, den Nudelteig in die Schüssel zurückknallte und halblaut eher zu sich selbst sagte, der Frechling, der Ausgepichte, einem solchen Unverschämten brate ich Leber, und ihn mit halboffenem Mund anstarrte.
    Eine solche Frechheit, ist das die Möglichkeit, schien sie zu fragen.
    Eine Weile versank auch Gottlieb in sich selbst und starrte zurück.
    So ein undankbarer, frecher Mensch, ein solcher Flegel, und ich habe nicht bloß eine ganze Leber gekauft, das schönste Stück Leber der ganzen Metzgerei habe ich ihm mitgebracht, ich mache ihm auch aus frischen, ganz frischen Pilzen eine Suppe, sagte sie nach langem Schweigen. Aber das habe ich schon gesehen, dass Sie Ihren Hut zu Hause gelassen haben, denken Sie ja nicht, ich hätte es nicht bemerkt, Sie Unglücksmensch, ein schwachsinniger Greis sind Sie geworden, rief sie und lachte. Das Lachen widerhallte unheimlich in den leeren Zimmern. Barhäuptig sind Sie ausgegangen, sagte sie lachend, das ist noch nie vorgekommen, Sie aber sind auch dazu fähig. Wie ich es merke, sage ich zu mir, es gibt keine anständige jüdische Familie, in der so etwas vorkommt. Was für ein
zores
. Sie ernähren sich anständig, ich opfere mich für Sie auf, jede Woche koche ich mindestens einmal Kraftbrühe, und doch sind Sie völlig verblödet.
    Plötzlich hörte sie auf zu lachen.
    Die Pilze will ich diesem Verblödeten wenigstens kochen.
    In Erwartung einer Antwort, einer winzigen Erwiderung, einer Schelte, eines Danks, eines Ausrufs, in Anbetracht der vielen dem Wohlbefinden ihres Manns gebrachten Opfer verstummte sie. Sie verstummte, es war wie ein Flehen. Ich bitte inständig, um irgendetwas. Mit dem kleinsten Zeichen hätte sie sich zufriedengegeben, wie sie es diesem bis ins Mark gefühllosen Menschen ein Leben lang nicht hatte abringen können.
    Ein wenig, ein ganz klein wenig Erbarmen. Aus Liebe.
    Den kannte sie wohl. Diesen Mann brauchte man ihr nicht vorzustellen.
    Der hat kein Geheimnis, das sie nicht kennt.
    Nockerln schnippe ich hinein, mit schön vielen Eiern, fügte sie hinzu, und Sie sind so undankbar. Die Petersilienschwitze habe ich mit Butter gemacht, was kann ich denn noch für Sie tun, ich lasse sie mit ein bisschen Kraftbrühe auf. Einmal, nur keine Angst, werde ich Ihre schmutzigen kleinen Geheimnisse allen erzählen.
    In Gottliebs Ohren breitete sich die emotionale Leere noch stärker und gefährlich aus, obwohl es besser gewesen wäre,

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