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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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fast gleich lang. Er musste um sie herumgehen.
    Es waren keine Lumpen und keine Lederlappen, sondern bis auf die Knochen ausgedörrte Katzen. Was Balter nicht im Geringsten überraschte, schließlich war er es ja, der die überzähligen Katzen hier zu erhängen pflegte.

Isoldes Liebestodeslied
    Es sah nach Regen aus an dem kalten Vorfrühlingsmorgen, aber es regnete nicht, seit Tagen nicht, die ganze Zeit blieb es so.
    Gegen Nachmittag berührte die dampfende graue Erde unmerklich den tiefgrauen Himmel, und plötzlich war wieder der malvenfarbene Abend da. Die Verdunkelungsvorschrift galt unter Androhung der Todesstrafe. Sie zogen in ihre Keller hinunter, sie zogen sich in ihre erkalteten Häuser zurück, zwischen Ruinen, vor ihnen die endlose Nacht.
    Auf der flachen, sich bis zum Horizont erstreckenden Ebene, in der Maas, Niers und Rhein aufeinander zustreben, sind Ende Februar solche von Vorfrühlingsnebeln verkürzten Tage keine Seltenheit.
    Vom zugigen Turm der alten Backsteinkirche aus beobachteten sie abwechselnd die ins Dunkel sinkende Ferne. Es kamen keine Flugzeuge. Die Artillerie schwieg. Man schien sie vergessen zu haben. Keine Vorhut des Feindes. Er wurde von der Seite der Felder von Herongen erwartet, wo er irgendwann einmal auftauchen würde, aus dem Moor, das in dieser Gegend von niedrigen, struppigen, krummstämmigen Nadelhölzern bedeckt ist. Oder er käme mit seinen Panzern über die Broekhuysener Landstraße. Bei nebligem, dunstigem Wetter geraten die vertrauten Landschaftsmarkierungen auch für das geübte Auge ins Schwanken. Da, sie kommen, mit vorgehaltener Waffe, aber dann ist es nur ein Zucken der eigenen Wimpern, der schwebende Dunst, der ausfransende Rauch im nebligen Dämmer, wie er sich in fernen Tannengrüppchen verfängt oder aus ihnen aufsteigt.
    Zwei schlachterfahrene ältere Männer lösten sich auf dem stark beschädigten Turm ab, was alles andere als ungefährlich war.
    Ein paar Tage zuvor war das riesige Uhrwerk der Kirche heruntergekracht, hatte die Decken durchschlagen, das Balkenwerk beschädigt, während die Druckwelle hinten die Turmwand über zwei Stockwerke hinweg aufgerissen hatte. Die Männer wechselten sich Tag und Nacht ab, drei Stunden waren jeweils auszuhalten. Aber auch von dort oben konnten sie nichts sehen, nichts hören, nur die schmerzhafte Stille nach dem vielen Geschützlärm, den Explosionen.
    Sie waren von der Außenwelt abgeschnitten. Er hörte noch seinen Großvater sagen, wir waren von der Außenwelt abgeschnitten. Diesen vor langer Zeit gehörten Satz sagte er immer wieder vor sich hin, wir sind abgeschnitten, wir sind abgeschnitten.
    Ihre Stadt, die auf allen Seiten dem Wind ausgesetzt war, lag nach den schweren Luftangriffen des vergangenen Tags in Trümmern. Sosehr er auch hinstarrte, er konnte nicht entscheiden, ob das jetzt die Klosterstraße oder doch die Mühlenstraße war. Es gab viele Verwundete, man wusste nicht wohin mit ihnen, und zahllose Tote unter eingestürztem Dachgebälk. Der Geruch von verbranntem Fleisch lag in der Luft, verklebt mit dem Rauch, und wenn abends der Wind drehte, brachte er auch wieder den Gestank von verbranntem Fleisch und verbrannten Knochen mit.
    Früher hatte man jeweils gesagt, die Zwangsarbeiter da draußen machen aus Knochenmehl Seife.
    Tagsüber strahlte der Rundfunk vaterländische Lieder und Märsche aus, und Isoldes Liebestodeslied, sonst nichts, ununterbrochen, immer wieder von vorn. Es schmetterte aus den am Rathaus montierten Lautsprechern, unter der abgenutzten Nadel in den Rillen kratzend und knisternd. Niemand ließ sich mehr von Märchen einlullen. Nachrichten wurden nicht mehr gesendet. Einen eigenen Rundfunkempfänger durfte man wegen feindlicher Propagandagefahr nicht haben. Man wusste, dass die vollständige und bedingungslose Kapitulation unvermeidlich war, aber auch darüber redete niemand.
    Anders konnte es nicht enden. Und mehr gab es nicht zu sagen, seit Tagen nicht.
    Am Vormittag des nächsten Tags kletterte auch der Geistliche hinauf.
    Wer weiß, was noch alles kommt.
    Er wollte nachsehen, woraus die bedrohliche Stille bestand.
    Das Dröhnen der Front hatte sich noch weiter entfernt. Er traf da oben nicht den Religionslehrer an, sondern Döhring, den pensionierten Direktor der örtlichen Raiffeisenbank, dem er nicht ganz traute. Sie begrüßten sich knapp, aber schon das schien zu viel, während beide spürten, wie ausgeliefert sie waren, da, über dem gähnenden Abgrund. Der

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