Parallelgeschichten
Rücksichtslosigkeit, eigentlich steckten Grausamkeit und Unbarmherzigkeit hinter der Höflichkeit und trockenen Besserwisserei. Man durfte einander nicht mit Offenheit belasten. Zuweilen waren die Formulierungen auf eine Art gespreizt und altmodisch, als sollten alle Wünsche oder Sehnsüchte vor den anderen geheim gehalten werden. Meistens wurde nicht einmal Zweifel laut. Auch jetzt lachten sie in der plötzlich entstandenen Stille eher wegen der Spannung, die durch das außergewöhnliche Ereignis entstanden war. So wie junge Burschen eben lachen, wenn sie sich gegenseitig aufstacheln. Einige rutschten zwischen den höheren und tieferen Tönen herum, andere wieherten einfach los. Es war schwer sich vorzustellen, dass der, der gestern hier gekniet hatte, um die Maulwurfsgrillen aus dem frischen Dünger zu klauben und in einen Eimer zu werfen, jetzt auf einem Marmortisch lag und Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen war.
Das Hübsche am Gehirn ist, dass man Längs- und Querschnitte machen kann. Ich will es nur bemerkt haben, es ist deine Sache, ob du es glaubst, beharrte Kienast gegen das Lachen.
Es lag nichts Bösartiges in diesem Lachen, man behandelte Kienasts Torheiten oder auch seine offensichtlichen Charakterschwächen mit liebevoller Nachsicht. Er war ein kleiner Scheißkerl, aber man mochte ihn, schon seit einiger Zeit stand er unter allgemeinem Schutz. Wenn er seine Epilepsieanfälle hatte, umstellten ihn die Jungen im wahrsten Sinn des Wortes, lenkten die Erzieher geschickt ab. Es durfte nicht herauskommen, Kienast wurde gewissermaßen zum Pfand ihres heimlichen Widerstands.
Und so schluckten sie auch seine kleinen Gemeinheiten.
Kienast war zerbrechlich, böse und starrköpfig. Dass Epileptiker nicht aus dem Institut entfernt wurden, war klar, man war ja auf ihre Verhaltensmuster genauso neugierig wie auf sämtliche Fehlfunktionen, aber laut Gesetz mussten sie sterilisiert werden. Die Sache war ernst, und so wurde Kienast zum stummen Objekt des gemeinsamen Widerstands. Mit seinem Übereifer versuchte er wohl, seine Bedrohtheit zu kompensieren, so wie die anderen an ihrer Männlichkeit arbeiteten.
Seinem Selbstwertgefühl tat es nicht gut, dass er mit seinem körperlichen Gebrechen unerfindlichen Ursprungs auf sie angewiesen war.
Und dann gehen sie Zelle um Zelle vor, kommen den Geheimnissen des Typs nachträglich auf die Spur.
Wer auf welche Art Selbstmord gemacht hatte, war Gegenstand schauerlicher Legenden.
Es war den Zöglingen streng verboten, sich den Bahnschienen, die den Tannenwald durchquerten, dem hohen Viadukt über der Wiesenbadener Talschlucht oder dem höher gelegenen Ochsensprung, einem Felssporn über einem Wasserfall, der über den an die Steilwand geklammerten Eichen nur knapp sichtbar war und wo nach der Sage eine ganze Ochsenherde der Herren von Wolkenstein aus Verschulden eines mit dem Teufel paktierenden Hirten Rettung in der Tiefe gesucht hatte, ohne Begleitung der Erzieher zu nähern.
Auch wenn die Erzieher fast jede Überschreitung wortlos zur Kenntnis zu nehmen hatten. Den Internatsregeln gemäß wurde höchstens schriftlich festgehalten, wenn jemand die Verbote übertrat. Um von den renitenten Neigungen und heimlichen Bewegungen unter den Jungen ein realistisches Bild zu bekommen. Es war vorgekommen, dass Gruber, wenn er das Grüppchen vor der St.-Annen-Kirche erwartete, sie nicht wieder heimführte, sondern mit ihnen ins städtische Dampfbad in der Hauerstraße ging, dann in die Bierhalle in der Johannis-Straße, die hauptsächlich von Minenarbeitern in Sonntagskleidung frequentiert wurde, wo dann gegessen wurde und die Größeren ein anständiges Glas Bier bekamen.
Gruber bezahlte, bezahlte alles.
Und sagte, jetzt hätten sie keine Geheimnisse mehr voreinander.
Was Hans von Wolkenstein auch nach längerem Nachdenken nicht verstand. Im Prinzip konnte zwischen oder mit ihnen tatsächlich nichts geschehen, was ihre Erzieher nicht gewusst und nicht in ihren Notizbüchern festgehalten hätten. Aber er verstand nicht, was für eine Art Geheimnis der Gruber an einem Sonntagvormittag in einem Dampfbad voller lärmender Männer aufgespürt hatte. Dass es eine physikalische Erscheinung war, die auch sie im Prinzip hätten beobachten können, darüber konnte Hans keine Zweifel haben.
Und dass er diese Beobachtung irgendwie mit ihrer Religiosität oder ihrem Glauben in Zusammenhang bringen würde. Er wagte niemanden zu fragen, was der Gruber gemeint haben könnte. Wer
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