Parallelgeschichten
tränten den ganzen Tag. Auch wenn bei anderen Malen, für andere Blicke, vor allem in den Augen von Fremden, das doch nichts anderes war als eine weit abgelegene, schöne idyllische Landschaft, ein nettes Nest, ein altes Jagdschloss in unberührter Waldesdichte, wo alles wohlgepflegt war und vernünftig und innerlich und äußerlich harmonierte.
Er würde eine blonde, blauäugige, gänzlich nordische Frau heiraten und so einigermaßen in Ordnung bringen, was seine Mutter mit ihrem unbedachten Schritt kaputt gemacht hatte.
Die anderen kannten seine Familiengeschichte nicht. Es war auch nicht klar, woher er selbst sie kannte. Das erhaben schöne Tal schien auch tagsüber im Dunst zu schweben, wie Fremde begeistert sagten, ihr Familiengut. Von seiner Mutter erfuhr er sehr selten etwas über seine Geschichte, ihre alten Bediensteten pfiffen hingegen aufs Erbrecht und erzählten ihm allerlei. Das Tal ohne Dunst, das gab es nicht. Im Morgennebel, im Abendnebel zerfiel und verlor sich jeder Umriss. Es war nicht klar, ob das über dem Frauenholz Bergkämme waren oder Wolken. Alles tropfte, alles tränte, Pflanzen und Gegenstände. Es perlte von den Blättern, schimmernde Tropfen saßen an den Nadelspitzen.
Langsam und leise begann es in den Traufen zu tropfen, dann floss es von den breiten, hohen Dächern, als ob es regnete, und gluckste immer lauter.
Im Institut erwartete sie eine wissenschaftlich fundierte, vitaminreiche Kost, glatte, schmucklose Möbel aus edlem deutschem Holz, Eiche und Birke, ein Lehrkörper, der beinahe freundschaftlichen Geist verströmte. Die Fachlehrer wurden morgens mit dem Gesellschaftsmotorwagen aus Annaberg herbeigefahren. Auf Wunsch durften die Jungen Freifächer belegen oder unter Aufsicht und Anleitung verschiedene Sportarten ausüben. Klettern, Ringen, Boxen, während andere wiederum ein Instrument oder Fremdsprachen lernten. Oder man saß an den mit rötlichbraunem Ziegenleder bezogenen Tischen in der Bibliothek im Erdgeschoss. Tat beim Licht der grün beschirmten Lampen, als schlage man Angaben für die Hausarbeiten nach, während man in Handbüchern und Lexika heimlich der Vererbungslehre oder den Symptomen eigener Krankheiten nachforschte.
Aus einem unerfindlichen Grund war hier in den Bergen die Botanik zur großen Leidenschaft der Jungen geworden. Sporen, Stempel, Bestäubung, Kreuzung, alles faszinierte sie, diese selten verwendeten Ausdrücke an sich schon, Antreiben, Impfen, Einsetzen, Pfropfen und Okulieren, das Treibbeet in den Lehrgärten, das Säen, das Pikieren und Pinzieren, das Setzen und Umpflanzen ins Kaltbeet, schon das Wort selbst, Kaltbeet, das Ziehen, der Baumschnitt im Winter und im Frühling, der Keimlingsgarten und das Frühbeet, die Pflanzanordnung in Reihen oder Kreisen. Das alles war schön, sehr einfach und sehr zeitaufwendig, manchmal verlangte es körperliche Anstrengung, dann wieder Versenkung und ernste Aufmerksamkeit. Es vertiefte ihre Geduld und ihr Vertrauen in die großen Vorgänge der Natur, ersetzte bis zu einem gewissen Grad die Religion, denn bei diesen Tätigkeiten dachte man ja nicht nur an die folgende Woche, sondern auch ans folgende Jahr, ja, an die nachfolgenden Generationen.
Sogar dann, wenn es um einjährige Pflanzen ging.
Bald kannten sie sich bei den Pflanzen so gut aus, dass sie von einzelnen Exemplaren ausgehend auf die ganze Wachstumsphase oder sogar auf die ganze Art zurückblicken konnten.
Das Eigengewicht ihres Wissens bereicherte den Augenblick. Trotzdem, ihre Grundbefindlichkeit war die der Sorge, der unguten Vorahnungen. Es saß bleischwer in der Tiefe ihrer Seele. Ohne es sich einzugestehen, versuchten sie zu erahnen, auf welche Art sie den Zufall ihrer rassisch unzulänglichen Geburt gutmachen könnten. Und siehe da, kaum waren sie aus den Ferien zurück, ja, es waren noch nicht einmal alle da, als schon wieder einer Schluss machte.
Professor Schultze, weithin berühmt für seine rassenbiologischen Messungen und Messtechniken, ein äußerst korrekt wirkender älterer Herr mit flockig feinem weißem Haar und von geplatzten Äderchen rosaroten Nasenflügeln, befand sich auch schon im Internat. Meistens summte er vor sich hin, pfiff ein Liedchen, ein unzugänglich bleibender, aber sehr musikalischer Mann. Jeden Monat verbrachte er eine Woche, manchmal auch zwei, im Dachraum in seinem kleinen Ordinationszimmer, das voller merkwürdiger Geräte war.
Er bestellte die Jungen einzeln zu sich und kam nur zum Essen
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