Parallelgeschichten
in der Wiesenbadener Talenge 980,839 Zentimeter pro Sekunde. Wenn also im Augenblick, in dem man das geeichte Bleigewicht loslässt, die Geschwindigkeit null beträgt, dann sind es in der ersten Sekunde 980,839 Zentimeter, in der folgenden Sekunde 2 × 980,839 Zentimeter, und so weiter; nach t Sekunden t × 980,839. Ab hier vermochten nur noch wenige den Erläuterungen des hübschen jungen Physiklehrers zu folgen, denen gemäß das Gesetz in gewöhnlichen Worten ausgedrückt bedeutet, dass die Geschwindigkeit proportional zur Zeit ist, und so sei es einfach zu berechnen, mit welchem Widerstand ein in einer gegebenen Zeit mit gegebener Geschwindigkeit fallender Körper auf dem Boden auftrifft.
Wer die Berechnung nicht verstand, sondern sich nur Mühe gab, nicht an die zerschmetterte Leiche zu denken, nicht an den Jungen, den er, je nachdem, gemocht oder gehasst hatte, und das Experiment wenigstens mechanisch abzuwickeln, beobachtete in solchen Augenblicken, wie der hübsche Physiklehrer mit beiden Händen in den Taschen seines Arbeitskittels kramte und dabei mit dem Hintern herumturnte. Was suchte er, was fand er, während er da vor ihnen auf und ab spazierte. Manchmal war er so in die Erklärung der physikalischen Welt vertieft, dass er unwillkürlich stehen blieb, etwas aus der Tasche holte, es lange mit unschuldigen Augen anschaute, wobei er offensichtlich nicht hätte sagen können, warum er es hervorgeholt hatte und was er da sah. Kreiden, Bleistiftanspitzer, Radiergummis, ein sorgfältig aufgewickeltes Stück Schnur, ein Pendel, das war der Inhalt seiner Taschen. Schnur und Pendel gehörten zusammen. In den Haken des Pendels konnte man die aus gewachsten roten Fäden gedrehte Schlaufe der Schnur einpassen. Aus einem unerfindlichen Grund beneidete ihn Hans ganz besonders um dieses nette kleine Instrument. Oder der Lehrer streckte in seiner Zerstreutheit, die Hände tief in den Taschen vergraben, den Hintern ein wenig vor, griff sich zwischen die Schenkel und kratzte. Die Jungen wussten sehr wohl, was er da kratzte, sprachen es auch aus, der kratzt sich an den Eiern. Sie meinten zu wissen, dass er mit einer Hautkrankheit kämpfte, der Folge einer Geschlechtskrankheit. Manchmal hob er die Schöße seiner Arbeitsschürze, griff sich in die Hosentasche und verschaffte seinen Hoden eine günstigere Position.
Dabei hörte er mit dem Erklären auf, und sein regelmäßiges Gesicht mit dem hübschen Schnurrbärtchen nahm einen verträumten Ausdruck an.
Die zerschmetterten Leichen wurden nicht ins nähere Chemnitz, nicht einmal nach Dresden, sondern ins entferntere Leipzig verbracht, geradewegs in die Universitätsklinik, wo sie nach gründlicher Sektion ihren Angehörigen in einem versiegelten Sarg übergeben wurden. An diesem aus heiterem Himmel über sie hereingebrochenen neuen Tag standen sie im botanischen Garten, die Hände schmutzig von der feinen Walderde.
Unter ihnen gab es einen Jungen, den Kienast, der zu wissen meinte, die Leipziger und Berliner Forscher seien auf die Hirnmasse der Selbstmörder besonders erpicht.
Du phantasierst, Kienast, warf ein anderer ein, ein älterer Junge, ziemlich zaghaft. Du redest Unsinnn, würde ich sagen.
Das geht so, fuhr Kienast fort, als hätte er den Einwand gar nicht gehört. Man sägt, falls vom Kopf noch etwas vorhanden ist, die Schädeldecke ringsum durch und hebt sie wie einen Topfdeckel ab.
Das macht man immer so, was wäre da besonders, entschuldige schon.
Aber ich weiß genau, wie sie an die wertvolle Hirnmasse herankommen.
Das bezweifle ich ja gar nicht.
Und an die müssen sie herankommen.
Klar, sie werden ihnen das Hirn ja bestimmt nicht mit einem Strohhalm durch die Nase oder die Ohren heraussaugen.
Ich werde es doch wissen, wiederholte der Junge hartnäckig und beleidigt, der neunmalkluge Kienast, während die anderen wieder auf seine Kosten lachten.
Er stammte aus Leipzig, sein Vater war tatsächlich Pathologe, wenn auch nicht an der Universitätsklinik, aber immerhin in der städtischen Prosektur. Er hatte äußerst sinnreiche Sektionsinstrumente erfunden, und Kienast behauptete, das sei bei ihnen Familientradition, bei ihnen seien alle Erfinder. Kienast selbst bohrte sich oft in der Nase, weswegen die anderen sagten, den Rotz habe er jedenfalls schon mal erfunden. Der ältere Junge, auch als Hans von Wolkensteins bester Freund bekannt, genoss hingegen ein hohes Ansehen. Der Ton unter den Jungen war sehr höflich und gebildet. Das ging bis zur
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