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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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Schritt brachte ihnen gerade Hans das Aufbegehren bei, er tat es an ihrer Stelle, was ihm riesige Lust verschaffte. Immer bis dorthin gehen, wohin sie sich nicht vorwagen und sie so den Widerstand lehren. Die Erzieher merkten nicht, dass das Lachen gemeinsame und organisierte Renitenz war, eine wahre Rebellion. Beziehungsweise sie merkten es immer erst, wenn es zu spät war. Obwohl sie doch das alles in seinen einzelnen Erscheinungsformen und Elementen hätten festhalten müssen.
    Denn vom genetischen Standpunkt aus gesehen galt ein rebellisches Gemüt als besonders verräterisches Zeichen.
    Die Baronin selbst fand es empörend, wenn jemand nicht ohne Grinsen auskam, einen nicht anblicken konnte, ohne zu grinsen.
    Hans, mein Junge, du benimmst dich, schlicht gesagt, unmöglich, schalt sie ihn.
    Aber auf sie hörte ihr Sohn am allerwenigsten.
    Jedes Jahr versuchten mehrere Jungen, ihr Leben wegzuwerfen, nur die Methoden oder die Resultate waren verschieden. Hans nahm nichts ernst, die Baronin war besorgt, aber sie redete ihm vergeblich zu. Ihm war auch ihr mütterlicher Schmerz egal, ihre Schelte, ihre Mahnungen, alles prallte an ihm ab.
    Er hörte ihr mit großen, ein wenig erstaunten, ungläubigen Augen zu, wie jemand, der das Tun eines anderen neugierig registriert, aber seine Gefühle schön bedeckt hält. Darin erkannte die Baronin sich selbst und verstummte jedes Mal zufrieden. Auch wenn mit diesen renitenten, kühnen Augen der Vater des Jungen auf sie blickte. Als kämen sie sich alle drei jenseits der konventionellen Sentimentalität mit einem Mal nahe. Und keiner von ihnen könnte sich dieser schamlosen Nähe verweigern.
    Hans verbrachte das vierte Jahr im Internat. Ohne dessen Gründung hätte seine Mutter wirklich nicht gewusst, wo sie ihn unterbringen sollte. Solche seltsamen Stunden oder Tage hatte er also während dieser Jahre schon mehrmals erlebt, aber im Gegensatz zu den anderen Jungen hatte er am Todessprung schon beim ersten Mal nichts auszusetzen gehabt. Höchstens das Endgültige daran überraschte ihn, aber eher auf wohltuende Art. Die hatten ihre Würde gewahrt, während alle anderen sie jede Stunde mehrmals verloren, bis der ganze Vorrat erschöpft war. Die Jungen, die Selbstmord machten, achtete er für ihre Klarsicht und Konsequenz. Er stimmte ihnen in der Tiefe seiner Seele zu, hielt sie für höhere Wesen als jene, die, so wie er, in ihrem Leben auszuharren wünschten. Er machte gute Miene zum bösen Spiel, wollte weder seine eigene Lage noch die der anderen mit Gejammer erschweren, wurde auf diese Weise zum entwürdigten Komplizen des Schicksals und litt mit seinem ganzen Wesen am Dasein.
    Dauernd hatte er das Gefühl, das Rohmaterial seines Körpers, Organe und Glieder, sei in der falschen Haut verstaut, und er habe nicht die Seele bekommen, die zu einer solchen Haut oder zu einem solchen Fleisch passe. Er verachtete jene zutiefst, die ihr Leben im Zeichen törichten Pflichtbewusstseins und naiver Achtung vor den Eltern verbrachten. Was immer auch geschah. Die ließen sich für alles einseifen. Lächerliche Kreaturen in seinen Augen. Trotzdem gelang es ihm nicht, die tiefverwurzelte religiöse Ahnung auszuschalten, dass die Jungen vielleicht doch vom Teufel versucht wurden, wenn sie sich in die Tiefe stürzten.
    Dieses Schuljahr bestand tatsächlich aus dem ganzen Kalenderjahr. In den kurzen Sommerferien musste er dableiben, durfte nicht nach Berlin. Und mit Hinweis auf ihre Arbeit kam die Baronin auch nicht nach Annaberg.
    Als er in diesen drei Wochen allein in der ungeheuren Erzgebirgslandschaft umherstreifte, dachte er viel über solche Dinge nach. Aber nicht einmal nachträglich wäre ihm eingefallen, sich über die Selbstmorde zu entsetzen, so wie es die anderen taten. Höchstens fand er jene Jungen lächerlich, die die Richtung ihres Sprungs falsch berechnet oder es sich im allerletzten Augenblick plötzlich anders überlegt hatten und deshalb am ersten Felsen hängen blieben und verletzt zusammengelesen wurden. Oder deren Plan von vornherein schlecht gewesen war. Die waren fähig, sich vor die Schmalspurbahn zu werfen, die Rindviecher, obwohl sie doch genau wussten, dass der Zug vor dem Viadukt seine Geschwindigkeit drosseln musste und ihnen höchstens Arme oder Beine abtrennte.
    Der Anreiz zum freien Fall wurde zuweilen zu einem richtigen Fieber, verbreitete sich unter den Jungen wie eine Epidemie. Vom Viadukt war der Sprung in die Tiefe am sichersten. Als müsste in jedem

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