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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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Schuljahr ein solches Opfer gebracht werden, damit die anderen erschraken und der Versuchung widerstanden. Als brächten die Selbstmörder ihren zerstörten Körper den anderen dar. Und damit es einmal gelang, mussten es mehrere versuchen, unter noch mehreren Kandidaten. Weder tot noch verwundet kamen ihnen diese Jungen, die den Versuch unternommen hatten, je wieder unter die Augen. Es gab keine Trauerfeier oder Gedenkstunde, die Erzieher führten keine Untersuchung durch, um herauszufinden, wer dem Selbstmörder bei seinen Vorbereitungen geholfen hatte.
    Allein wäre es sehr schwierig gewesen, so etwas unbemerkt durchzuführen. Es war offensichtlich, dass jeder Komplizen hatte, und derartig starke Freundschaften bedeuten für die Gruppe keine geringere Gefahr als eine kollektive Rebellion. Freiherr von der Schuer persönlich beobachtete aus der Distanz solche ansteckenden Tendenzen mit Besorgnis; aber der aus Schwesterinstitutionen herbeigeholte pädagogische und psychologische Beirat befand, dass das Phänomen von einem statistischen Standpunkt aus gesehen nichts Außergewöhnliches darstellte. In so breit angelegten Experimenten muss dieses Risiko einkalkuliert werden.
    Die anderen Jungen erhielten auch keine religiös gefärbte Standpauke, alles ging seiner gewohnten Bahnen, als wäre nichts geschehen. Das Ganze war lediglich die bei aller sicheren Lebensführung anfallende Fehlerquote.
    Um die Abwesenheit jener Jungen schwebte eine Art Schweigen, eine unnennbare Scham. Jedenfalls bei denjenigen, denen die toten Kameraden fehlten. Das Schweigen macht das Vergessen schwieriger. Einer der Geistlichen der St.-Annen-Kirche hätte des außerordentlichen Ereignisses gedenken sollen. Zumindest von der Kanzel in Annaberg, wenn die Erzieher die Freiwilligen zum Frühgottesdienst führten. Jeden Sonntagmorgen wurde der Appell zu einer umständlichen Prozedur, man wollte sehen, wer gläubig war, wer heuchelte oder wer aus bloßem Opportunismus mitging, um dann die Gemeinde während des Gottesdienstes mit seinem Gekicher in Empörung zu versetzen. Hans hatte sich gemeldet, aber nicht, weil er seiner Mutter im Glauben folgen wollte. Die Geistlichen, die in einem sichtlich gespannten Verhältnis zu den demonstrativ atheistischen Erziehern standen, erwähnten in ihren Predigten die Selbstmorde nie. Sie mussten davon wissen, aber sie ließen sich nichts anmerken. Hans hatte den deutlichen Eindruck, das gemeinsame Schweigen sei wie die freie Valenz in der Chemie, die in der Hoffnung auf eine Verbindung gewissermaßen in den leeren Raum hinaushängt.
    Schließlich waren es ja die defekten Exemplare, die umgekommen waren, das durfte man nicht vergessen. Ein heidnischer Gedanke, Hans verstand nicht, wie ihm die Geistlichen zustimmen konnten.
    Er stellte es sich so vor, dass die früher aus dem Leben geschiedenen Kameraden die neuen Selbstmörder am Arm packten.
    Wenn es wieder einmal so weit war, nahm sie Gruber, der Physiklehrer, am nächsten Tag zum Viadukt mit, um das Phänomen des freien Falls wieder einmal zu erklären. So oft ein Selbstmord passierte, so oft erklärte er es, jedes Mal mit den gleichen Ausdrücken, aber sie wurden dessen nie überdrüssig. Ob sich einer endgültig den Garaus gemacht oder, der Dummkopf, bloß Pech gehabt hatte, es war jedes Mal so, als erkläre es Gruber zum ersten Mal. Eine Gruppe musste unten im Tal am Fuß des Viadukts warten, die andere Gruppe kletterte unter der Leitung des hübschen jungen Lehrers zwischen den Tannen auf den Bahndamm hinauf, von dort marschierten sie zum Mittelpfeiler des Viadukts. Nach Beendigung des Experiments wechselten die Gruppen die Plätze. Der Lehrer war der Meinung, sie würden die fabelhafte Gleichmäßigkeit der Beschleunigung und die strikt physikalische Natur des Menschenlebens nur verstehen, wenn sie es aus beiden Perspektiven erlebten und maßen. Für das Experiment waren lediglich ein geeichtes Messband, ein geeichtes Bleigewicht und zwei geeichte Stoppuhren vonnöten. Dass die gleichmäßig beschleunigte Bewegung, zwar nicht auf vollkommen vorhersehbare Art, aber doch an jedem geographischen Punkt verschieden ist, war nicht so schwer zu verstehen. An dem Ort, wo wir leben, zum Beispiel, beeinflusst die zusammenhängende Gneiskruste die Bewegung stark, aber gleichmäßig. Nach dem allgemeinen Gesetz verändert sich die Geschwindigkeit eines fallenden Körpers in einem bestimmten Zeitraum um einen bestimmten Wert. Nach Grubers verbürgten Messungen war das

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