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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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sich vom Ochsensprung stürzte, dessen Körper wurde zuerst auf den ungeheuren Stufen des Wasserfalls zerschmettert, dann wurde er vom Wasser weitergetragen, gestrudelt, geworfen, auf die nächste Klippe geschippt.
    Die über sie gewonnenen Angaben mussten ins pedantisch dokumentierte System der parallel laufenden wissenschaftlichen Untersuchungen eingefügt werden, alle Daten an ihrem Platz, es gab nichts, was vom wissenschaftlichen Gesichtspunkt nicht interessant oder wichtig gewesen wäre. Das sahen auch die Zöglinge bereitwillig ein, die allgemein akzeptierten erbbiologischen Normen und Regeln kannten sie besser als sonst jemand. Dass unter ihnen keiner mit einer makellos arischen Abstammung war, wussten sie, am wenigsten der Kienast. Gerade deshalb hatte man sie ja hier versammelt, sie eigens deswegen ausgewählt. Der Gruber, der schon, der war stolz darauf, dass alle seine Maße rein nordisch waren. Was sie misstrauisch beäugten. Neben ihm sollten sie ihre Minderwertigkeit stärker spüren. Überhaupt gab es um Gruber herum zu viel Seltsames.
    Schon das machte sie misstrauisch, dass er immer noch bei seiner Mutter lebte, die sie mit feinen Streuselkuchen bewirtete.
    Sie waren zu Experimentzwecken hier, so viel hatten sie aus Grubers Bemerkungen herausschälen können, aber auch darüber sprachen sie mit niemandem, über so etwas nie.
    Warum ausgerechnet sie, warum nicht ihre Geschwister, die zu Hause ebenfalls gründlich untersucht worden waren. Sie selbst versuchten, Abstammung und Defekte der anderen aufzudecken, obwohl das alles eigentlich gar nicht hätte verheimlicht werden müssen. Juden gab es unter ihnen keine. Jedenfalls soviel sie wussten. Sie mussten sich heimlich dokumentieren, um in ihren eigenen Angelegenheiten klarer zu sehen. Warum hatten ausgerechnet ihre Eltern sie dieser ewigen Untersucherei ausgeliefert, wo doch gerade sie die Urheber der zweifelhaften Abstammung waren. Es gibt ja diese Unbedachtheit in Geschlechts- und Liebesangelegenheiten, die später nicht mehr gutzumachen ist. Kienasts Mutter war Mexikanerin, christlich, aber nicht arisch. Was man ihrem Sohn allerdings nicht mit bloßem Auge ansah. Aber die Jungen wussten, dass es an seinem Sohn oder Enkel doch noch zum Vorschein kommen könnte, und diese heimliche biologische Gesetzmäßigkeit erfüllte sie mit besonderem Schrecken. Schon wegen Kienasts höchst spektakulärer epileptischer Anfälle. Wie sollte Kienast aber wissen, ob es für ihn besser gewesen wäre, keine Mestizin, sondern eine Arierin zur Mutter zu haben. Sie betrachteten sich und einander mit einer gewissen Hypochondrie, als könnte bei ihnen jederzeit eine heimliche Krankheit ausbrechen oder ein sonstiges Zeichen rassischer Unreinheit, deren Träger zu sein sie der Paarung ihrer Eltern verdankten.
    Kienast liebte seine Mutter, wie konnte er anders, auch wenn es besser gewesen wäre, sie zu hassen, denn seine Geburt konnte er ihr nicht verzeihen.
    Und auch nicht, dass sie ihn diesen da überlassen hatte.
    Wenn sie ihn wenigstens mit einem anderen Mestizen gezeugt hätte, statt mit seinem Vater, wenn sie in Veracruz geblieben wäre, dann wäre er nicht hier und nicht als Epileptiker geboren.
    Jetzt musste er sich für seine bloße Existenz schämen.
    Und warum taten die Eltern, als sei das einfach ein vornehmes Knabeninstitut und sie hätten von nichts eine Ahnung.
    Von dem, was hier lief.
    Und sie selbst hätten keine andere Aufgabe, als ihren Sohnespflichten nachzukommen. Brav lernen, ein beispielhaftes Betragen an den Tag zu legen, damit die Eltern zufrieden waren. Die Eltern wollen für ihre Kinder bekanntlich nur das Beste.
    Man muss ihnen auf ewig dankbar sein.
    Aber trotz aller Gepflegtheit hatte das Institut etwas Ungutes, Fatales.
    Hans seinerseits freute sich, dass wenigstens sein Vater endgültig aus seinem Leben verschwunden war, wenigstens machte der ihm nichts mehr vor. Zuweilen schien ihm, als sei in der harmlos düsteren Landschaft und an diesem rustikalen, unverputzten Gebäude zu viel Gelblichbraun, als sei sein Material erdschwer, als habe dieser ganze glimmergefüllte Gneis etwas Ekliges. Und die Umgebung oder seine Familiengeschichte bedrücke ihn, weil hier alles nach kaltem Stein roch, Feuchtigkeit absonderte, hautfarben war. Zuweilen umwölkte sich sein Gemüt für lange Wochen. Er begriff nicht, warum er hier hatte geboren werden müssen, überhaupt, warum er geboren war. Die Felsen, die Stützwände, die Nord- und Westfront des Gebäudes

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