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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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großen Anstrengung warf er den Kopf hoch, ließ ihn wieder sinken, bis auf die Brust. Das Weinen kam herausgesprudelt. Und so ein hübsches Gesichtchen, dachte die Billettfrau ziemlich unbeteiligt. Was sollte sie auch mit einem so großen weinenden Kind. Sie war auf alles gefasst. Auch darauf, dass der neue Kabinenaufseher den Verstand verlor und sie angriff. Sie war in dieser Ecke neben dem Eingang ziemlich eingeklemmt, da kam man nicht so rasch weg. In Sekundenschnelle ergriff sie die nötigen Vorsichtsmaßnahmen. Und dort am Gangende waren ja diese starken Männer.
    Das Garnknäuel hatte sie in einem Stoffsäckchen, das Säckchen auf dem Schoß. Sie nahm es jetzt heraus und legte es zusammen mit der Häkelarbeit auf den Tisch. Drehte die Häkelnadel zwischen ihren dicken Fingern rasch herum, so dass sie zwischen ihren blutroten Fingernägeln wie eine Waffe hervorstarrte. Sie würde sich zu verteidigen wissen. Sie beugte sich etwas vor. Wenn der junge Mann angriff, würde sie ihm als Erstes den Tisch entgegenkippen. Sie stellte ihre Füße in Bereitschaft. Aber wenn er angreift, kann ich ihm auch die Augen ausstechen, dem kleinen Schwein.
    Von dem allen bekamen die Männer am Ende des Gangs nichts mit. Der intime Augenblick hatte ziemlich abrupt geendet, Ágost hatte sie, nicht gerade sanft, von sich gestoßen. Was noch lange nicht hieß, dass er sich ihrer Umarmung entwinden konnte.
    Jetzt lasst mich doch, sagte er gereizt. Und ich möchte euch sehr bitten, nicht an mir herumzudrücken. Ich hasse euch beide.
    Das war für die beiden andern Männer wie ein unverhofftes Liebesgeständnis. Sie wieherten los, krächzten förmlich vor Lust. Ein Triumph, den man feiern und genießen musste.
    Sie sprachen oft etwas Wahres aus, nur um die wahren Konsequenzen zu meiden. Oder umgekehrt, sie logen auf eine Art, dass es schön durchsichtig blieb. Hans kicherte ratternd und idiotisch, André lachte grob und zu laut. Wie lustvoll, dass die Wörter überhaupt nicht meinten, was sie sagten, sondern mit ihrem verborgenen Sinn ihren heimlichen Dialog bestätigten. Ágost hingegen hatte sie gerade in der Sprache des heimlichen kleinen Dialogs abbremsen wollen. Da war ein Sperrgebiet, das weder sie noch Fremde betreten durften. Auch Ágost genoss die Situation, genoss das Spiel. Hans’ idiotisch ratterndes Gekicher, András’ willkürliches Gewieher, diese für fremde Ohren gewiss unangenehmen Jünglingstöne waren ihm nicht im Geringsten zuwider. Die verletzende Übertreibung bedeutete nämlich, dass sie auf sein Spiel eingingen. Oder zumindest so taten, als ob.
    Auch wenn er sich nicht gleich aus der Schlinge ziehen konnte, war er auf dem richtigen Weg.
    Wenn sie das Sperrgebiet nicht betreten wollten, mussten in ihrer Geheimsprache die Dinge das Gegenteil dessen bedeuten, was sie normalerweise bedeuteten. Sie hatten es noch nie betreten.
    Es gab auch keine Frau, die es betreten durfte.
    Wenn es ihm wirklich gelang, sich aus der Schlinge zu ziehen, wenn ihn auch seine heimliche Familie von nichts mehr zurückhalten konnte, dann war er ein freier Mensch. Dann würde er endlich allein bleiben, abstürzen. Die beiden waren allerdings großzügige, edel gesinnte Männer, die bisher instinktiv alles unternommen hatten, um dieses Unheil abzuwenden, selbst wenn sie sich nicht herausnahmen, jemanden in seiner selbstzerstörerischen Freiheit einzuschränken. Im Gegenteil, sie ließen es in ihrem eigentlichsten Interesse zu, und genossen es sogar noch. Versahen es mit dem blutroten Siegel des
nihil obstat
. So möge es geschehen. Das Dasein hat wirklich keinen handgreiflichen Sinn. So möge er es tun. Jeder möge tun, was immer er wolle.
    Und nachdem das alles so deutlich zwischen ihnen aufs Tapet gekommen war, stand Ágost im Begriff, endlich zu reden. Das wäre die andere Lösung gewesen, und die hätte sogar einen Sinn gehabt, hätte zumindest bestimmten Dingen einen Sinn verliehen, für kurze Zeit. Seine Gereiztheit war glaubhaft, weil sie auf echte Hilflosigkeit deutete. Er hatte nicht die Kraft, nicht den Humor, in sein eigenes Nihil zu blicken, obwohl er der Einzige von ihnen war, der keinerlei idyllische Zukunftshoffnungen hegte.
    Zwecks Vereinfachung der Dinge hätte er seine Sprachlosigkeit loswerden müssen.
    Er konnte auch nicht behaupten, er finde keine Worte, denn in ihrer ganzen Vertracktheit war diese elende Angelegenheit doch nicht so kompliziert, dass sie nicht hätte vernünftig benannt werden können. Jungs, hätte er

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