Parallelgeschichten
gedörrten Äpfel und Pflaumen das Ihre getan.
Ein halbverhungerter Mensch darf nicht so plötzlich feste Nahrung zu sich nehmen.
Aber auch diesen Gedanken musste er gleich verwerfen, er konnte ja nicht wegen Pflaumen und Äpfeln, von denen er geträumt hatte, ins Bett geschissen haben.
Er litt ja nur im Traum Hunger.
Und so fühlte er schließlich, dass es keine Ausflüchte mehr gab, dass hier jemand war, der in dicker Scheiße in einem fremden Bett saß. Ich habe ins Bett geschissen, aber vielleicht träume ich auch das bloß. Dieser Jemand hat den Arsch voll, er sitzt in der Dünnschisspfütze, und da ist auch die härtere dicke Wurst im Arschspalt, ich bin im Pyjama.
So groß die Katastrophe auch war, sosehr er sich wegen seiner Verdrängungsversuche auslachte, die Wirklichkeit des Traums blieb realer. Vielleicht gerade weil ihn die Schmach auf Isoldes Bett, in Isoldes Schlafzimmer ereilt hatte.
Die Schande.
Und doch kamen dabei Zusammenhänge an den Tag, die bisher nicht nur er nicht gesehen hatte, sondern auch seine ganze Familie nicht, in ganz Deutschland keiner. Jetzt verstand er auch, dass er in seinem Traum gerade deswegen nicht deutsch sprechen durfte. Lieber war er ein anderer Mensch. Es war ja auch angenehm, vor der Schande in den Traum zurückzuflüchten, der trotz seines Wachseins immer noch weiterarbeitete. Der Traum drängte sich ihm geradezu auf, als flüstere er ihm lockend zu, wenn du willst, Kleiner, führe ich dich noch tiefer hinein. Klar, die anderen sind in Sachen Kartonschachtel so arglos, weil sie tatsächlich unschuldig sind.
Isolde war allein gewesen, als sie sie in der Dörrkammer gefunden hatte. Wer sonst hätte sie finden sollen.
Ist doch sonnenklar.
Er fand auch interessant, wie sein Traum das Geflecht der verwandtschaftlichen Beziehungen umgearbeitet hatte. Aus seinem Urgroßvater, von dem er kaum etwas wusste, hatte er den Großvater gemacht, aus den Brüdern Cousins. Auch Isolde wurde vom Traum als Cousine vorgestellt, obwohl sie doch seine Tante war. Natürlich, als Tante behielt Isolde ihre Geheimnisse für sich, der Traum hingegen erklärte ihre von den finanziellen Verhältnissen der Familie wesentlich abweichende Karriere.
Auch wenn er wach frohlocken durfte, dass er endlich dahintergekommen war, schien es ihm, er träume wieder.
Isoldes Vater hatte die Kartonschachtel an sich genommen, war zum Hof hinausgeradelt, hatte sie dort versteckt, doch am folgenden Morgen wurde er vor seinem Haus von drei aus dem Lager entflohenen Häftlingen umgebracht. Als Gerhardt Döhring vier Jahre später aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrte, wollte er die verzweifelte Erklärung nicht akzeptieren, dass ganz bestimmt die drei Häftlinge die geheimnisvolle Schachtel mitgenommen hatten und dass die Familie von nichts wusste. Wieso sollte er seinen Bruder für so blöd halten, dass er die Schachtel nicht anständig zu verstecken gewusst hatte. Also musste sie irgendwo sein. Er konnte sie nicht so dumm versteckt haben, dass diese armseligen Häftlinge sie gleich fanden. Mehr als einmal stellten sie den ganzen Hof auf den Kopf, den Keller, den Dachboden, sie klopften die Kamine ab, die Fußböden, die Wände. Den Schuppen leerten sie zweimal, trugen das Holz wieder zurück. Die Dörrkammer durchwühlten sie mindestens dreimal. Nicht zufällig. An verdächtigen Orten gruben sie Löcher. Gerhardt konnte die harte Tatsache, dass da nichts war, keinerlei Kartonschachtel, nirgends, nicht schlucken. In der Familie wurde die Erinnerung an sämtliche eingebildeten und wirklichen Verstecke des Hauses gegenwärtig gehalten, in der Wand der Dörrkammer hatte man schon hundert Jahre zuvor gerade zu einem solchen Zweck eine Vertiefung angebracht, die Kartonschachtel war trotzdem verschwunden. Wer hätte schon ahnen können, dass sie knappe zwei Wochen vor Gerhardt Döhrings Heimkehr von Isolde, dem kleinen Mädchen, gefunden worden war.
Kaum waren nach seiner Rückkehr ein paar Wochen vergangen, hatte schon die ganze Stadt vor Gerhardt Döhring Angst. Obwohl ja außerhalb der Familie niemand von der Kartonschachtel wissen konnte.
Ohne jede Ermächtigung führte er geheime Untersuchungen durch, im Zusammenhang mit den ordnungswidrigen Ereignissen der letzten Kriegswochen. Nicht allein, sondern mit zwei guten Freunden und dem Helden von Verdun, seinem eigenen Vater, der immerhin Jurist war und an dessen narbigem Gesicht er schon in früher Kindheit die fremde und feindselige Geschichte dieser Welt
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