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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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ganz offensichtlich. Ich kann es gar nicht wissen, fuhr sie fort, und ihre Stimme geriet ins Flattern, aber ich muss mir etwas einfallen lassen. Und um Gyöngyvér nicht mit ihren plötzlich überströmenden Gefühlen zu erschrecken und sich ihr auch nicht auszuliefern, seufzte sie nicht nur, sondern zog auch die Oberlippe hoch, wie ein vor Qual oder Freude zähnefletschendes Tier, und lachte.
    Das Seufzen und das Lachen folgten einander.
    Du wirst es nicht glauben, Gyöngyvér, ich habe nichts Schwarzes zum Anziehen.
    Und als sie das ausgesprochen hatte, fühlte sie genügend Kraft, die zwischen ihnen entstandene Strömung zu unterbrechen. Als signalisierte sie schuldbewusst, dass die andere diesen kurzen Moment nicht ernst zu nehmen brauchte.
    Auch wenn es noch eine große Rolle gab, die sie gern gespielt hätte.
    Nun, ein andermal.
    Jetzt musste sie in nüchternem Ton fortfahren.
    In die Innenstadt muss ich auf jeden Fall, bloß auf ein Stündchen. Es würde mich wirklich freuen, Gyöngyvér, wenn du mich begleiten könntest. Schuhe habe ich, eine Tasche und einen Mantel auch, eigentlich habe ich alles, aber zum Beispiel überhaupt keine schwarzen Strümpfe. Schwarz ist ja eigentlich nicht meine Farbe. Das heißt, stimmt gar nicht. Wenn es die Motten noch nicht gefressen haben, habe ich ein schwarzes Samt-Cocktailkleid, und ein schwarzes Taftkostüm habe ich auch. Das sind aber nicht richtig hochgeschlossene Kleider und für den Anlass also nicht verwendbar. Du verstehst ja bestimmt, dass mir jetzt die Aufmerksamkeit für Derartiges fehlt.
    Auf dein Urteil hingegen kann ich mich verlassen.
    Gyöngyvér beeilte sich nicht mit der Antwort, sie schwieg oder verstand die Szene nicht, aber sie änderte nichts an ihrem feinen, schmerzlichen Lächeln. Nach so vielen stummen und heimtückischen Demütigungen war dieses unerwartete Vertrauen wie ein noch heimtückischerer Angriff, es lähmte sie. Sie war zutiefst entsetzt, dass eine Frau vom nahen Tod ihres Mannes auf diese Weise sprach, so offen, so schamlos, so brutal. Bewusst vermochte sie gar nicht zu ermessen, wohin sich Frau Erna vorwagte, was alles sie antippte, es war schon zu viel, was sie unbewusst mitbekam. Die vertraut starke Anziehung und die vertraute Nähe, die sie nicht abwehren konnte. Sie konnte sich auch sonst nicht auf mehreres gleichzeitig konzentrieren.
    Wenn Ágost, oder vor ihm andere Männer, sie im Kindergarten anriefen und sie gerade mit den Kindern spielte oder sang, und jemand sagte ihr, sie solle doch endlich ans Telefon, dann musste sie sehr aufpassen, um den Menschen am anderen Ende der Leitung zu verstehen. Seit dem Morgen war sie von ihm so weit weggerückt, als hätte sie gar kein anderes Leben.
    Und umgekehrt.
    Wenn sie abends ausgingen, ins Fészek oder sonst wohin, und sie von Fremden gefragt wurde, was sie im Leben mache, antwortete sie zwar schon, sie sei Kindergärtnerin, aber so plötzlich hätte sie nicht sagen können, was das bedeutete. Es waren kaum ein paar Stunden vergangen, aber sie hätte schon nicht mehr zu sagen gewusst, was sie dort eigentlich machte. Innerhalb kürzester Zeit richtete sich in ihrer Seele zwischen den verschiedenen Dingen eine Mauer auf, die breiter war als die chinesische. Wenn etwas gerade nicht geschah, geschah dafür etwas anderes, und das Vorangegangene war nicht mehr zu sehen. Dauernd hatte sie Angst, nicht zu verstehen, was gerade geschah oder geschehen war. Sie hatte das Gefühl, die anderen begriffen nicht, dass sie nicht verstand. Sie durfte ja nicht sagen, dass es ihr schwerfiel, aus den verschiedenen Vergangenheiten in der Gegenwart anzukommen. Und sie verstand nicht, wie andere diese verschiedenen Dinge und Zeiten in ihrem Kopf zusammenzuklammern vermochten. Deshalb fühlte sie sich eigentlich nirgends zu Hause, außer bei den Kindern. Sie stand beim Telefon, hörte die vertraute Stimme, zu der kein Gesicht, kein Blick mehr gehörten, nur etwa ein Name und die reine Sinnesempfindung der Stimme.
    Auch wenn sie schon fast ein halbes Jahr unter demselben Dach lebten, war sie Ágosts Mutter bisher nicht einmal im schlichten, physischen Sinn des Wortes so nahe gekommen. Ihre Schultern, ein wenig auch ihre Schenkel, berührten sich, und keine machte Anstalten, sie zurückzuziehen. Manchmal spürte Gyöngyvér deutlich, wie verschieden Mutter und Sohn waren, dann wieder war sie überrascht, geradezu verblüfft, wie sehr sie sich ähnelten. Jetzt, seit dem Moment, als sie aus der Wohnung getreten

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