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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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waren, sah sie völlige Übereinstimmung. Zwischen der alternden Frau und dem jungen Mann gab es jetzt weder einen körperlichen noch einen seelischen Unterschied. Sie war völlig davon in Anspruch genommen, dass sie nicht die überbreite chinesische Mauer, sondern die vertraute Anziehung spürte, die Nähe, die nicht aufzuheben war und doch nicht vollzogen werden konnte.
    Sie hatte die wahnsinnige Vorstellung, sie müsse durch die Person der alternden Frau hindurch zu Ágost gelangen.
    Ágost hatte sie in den vergangenen Wochen still und höflich, aber schonungslos zurückgewiesen, nicht nur im Schlaf, nicht nur zufällig. In der vorangegangenen Nacht war der Kampf ins Brutale umgeschlagen, Gyöngyvér hatte gespürt, dass es diesmal keinen Übergang zwischen der quälend heftigen Diskussion und der Versöhnung geben würde, wie sie es manchmal gerade um der Intensität der Lust willen riskierten. Die ältere Frau hingegen hatte sich ihr auf einmal geöffnet, und noch nie hatte sie gespürt, dass zwei erwachsene Menschen so sehr eins waren. Wenn es ihr irgendwie gelang, in Erna überzutreten, war sie gerettet. Unterdessen verstärkte sich in ihrem Kopf die fürchterliche Migräne. Die Erkenntnis, dass sie tatsächlich gerettet wäre, wenn ihr das gelänge, überrollte sie geradezu. Jetzt ging es nicht mehr darum, dass Mutter und Sohn die gleiche Stimme, die gleiche Hautfarbe, die gleichen etwas eng und tief sitzenden Augen und den gleichen stechenden und stets forschenden Blick hatten und sich vollkommen glichen. Nein. Vielmehr ihre Art war die gleiche.
    Gegen allen Anschein war Gyöngyvér nicht dumm.
    Was sie aufgrund ihrer Gefühlssignale zu formulieren vermochte, kam meistens banaler, langweiliger, schlichter heraus, fast schon primitiv, und war viel weniger als das, was sie spürte. Jetzt zum Beispiel wiederholte sie für sich, wenn es gelingt, durch die Mutter hindurchzugelangen, brauche ich nicht wegzuziehen. Davor hatte sie Angst.
    Sie jubelte wie ein Kind, Frau Erna würde sie retten.
    Der Überlebensinstinkt verlangt auch von anderen nicht weniger Opportunismus. Trotzdem geriet sie häufig in Situationen, die nach Unmoral, unverzeihlicher Unanständigkeit aussahen.
    So etwa begriff Frau Erna in diesem Augenblick nicht, warum sie die Annäherung mit Schweigen beantwortete. Das schmerzliche kleine Lächeln hätte sie sich zwar noch ein Weilchen ansehen mögen, aber sie wurde immer ungeduldiger. Sie wandte sich ab und betrachtete durch den Regen, der über die Scheibe strömte, wie die Häuser der Ringstraße vorüberhuschten. Woran sie gut tat, denn Gyöngyvérs Lippen fingen vor Verstellung und Schmerz zu zittern an. Der Schmerz kam in Schüben über sie. Sie wurde fast ohnmächtig. Es war ja klar, dass sie den Mann nicht verlieren würde, das war Selbsttäuschung, sondern ihn schon verloren hatte. Sie suchte vergebens nach einer Erklärung für den Bruch, sie musste den Verlust akzeptieren, so unverständlich er war.
    Bei der Podmaniczky-Straße mussten sie anhalten, die Scheibenwischer quietschten und ratterten. Ich bin selber schuld, murmelte Frau Erna für sich. Ich habe sie mitgenommen. Wenn ich bloß wüsste, wozu zum Teufel, wieso bin ich in meinem Alter noch so blöd. Mache dieser dummen Gans Avancen. Wie kann man nur so blöd sein. Wie könnte dieser kleine Niemand meine wahnwitzige Großzügigkeit verstehen.
    Gyöngyvér spürte den Vorwurf nur am Rand, sie war in diesem Moment von der vielleicht größten Entdeckung ihres Lebens überwältigt. Die Angst war verflogen, an ihre Stelle strömte ein Glücksgefühl, wie es ihr bisher nur dieser Mann hatte vermitteln können. Als gäbe es einen Pfad vom Körper des einen Menschen in die Seele des anderen. Als verstünde sie in Frau Ernas Nähe Ágosts Körper besser. Das dachte sie nicht einfach so allgemein, sie sah den Pfad vor sich, oder eher die Pfade, die von einem Menschen zum anderen, verschlungen zwar, aber doch hinüberführen. Sie musste einen wählen, einen betreten. In diesem Müssen lag eine unangenehme Dringlichkeit oder ein Vorwurf. Aber ich bin doch schon dabei. Als hätte sie es bereits verpasst.
    Ich vermassle es, ich vermassle es wieder.
    Sie spürte es, ja, sie hätte den Druck von Frau Ernas behandschuhter Hand erwidern sollen.
    Jetzt konnte sie nicht mehr nach ihr greifen.
    Also war etwas nicht mehr wiedergutzumachen.
    Sie war kaum neunzehn Jahre alt gewesen, als sie an einem Wintervormittag durchs Tor des

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