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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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Kindergärtnerinnenseminars von Szeged hinausspaziert war. In der einen Hand ein Köfferchen, in der anderen eine zusammengeschnürte Kartonschachtel. Sie hatte sich auf den Weg gemacht, in dunstiger Dezemberkälte, auf dem schmierigen Straßenpflaster. In ihrer Manteltasche ein Zettel, auf den man ihr eine Adresse notiert hatte, da konnte sie auf ein paar Nächte hin. Seither hatte sie Nacht für Nacht ein Dach über dem Kopf suchen müssen. Das war an sich eine unmögliche Situation, und es kam auch mehrmals vor, dass sie in ihr Logis in irgendeinem Verschlag oder einer Büroräumlichkeit zurückkehrte und ihre Sachen in einem dreckigen Treppenhaus wiederfand, eilig zusammengerafft und hinausgeworfen, adieu. Da blieben Straßenbahnen, die Züge oder Bahnhöfe, bis sie auch dort von der Polizei vertrieben wurde. Sie wohnte in Arbeiterquartieren, verlassenen Bauernhöfen, monatelang schlief sie auf einem Klappbett in der Garderobe einer Turnhalle, und was nie jemand erfahren durfte, sie fand Unterschlupf in den Betten armseliger oder auch skandalöser Gestalten, manchmal für eine Nacht, manchmal auch für Wochen. Bei solchen Gelegenheiten musste sie mit zusammengebissenen Zähnen dazu beitragen, dass sie ihren Samenerguss in ihrem Körper erledigten. Sie war Mieterin von Schlafstellen, und als es ein bisschen besserging, wohnte sie zuerst in Kecskemét, dann in Budapest regulär zur Untermiete. Von da aber führte kein Weg weiter. Die Gesangsstunden waren teuer. Sie beschloss, einen Mann mit Geld zu heiraten, fand aber keinen oder fischte sich Männer heraus, die nicht ans Heiraten dachten.
    Es gab zwar einen Mann, der sie jederzeit geheiratet hätte, was aber sie nicht wollte, sie ekelte sich vor ihm, obwohl er sie anbetete.
    Allmählich war sie nicht mehr in dem Alter, in dem Mädchen geheiratet werden.
    Lernte sie jemanden kennen, kam ihr gleich die alte Angst, und wenn sie mit jemandem ins Bett ging, wer immer und wie immer es war, fühlte sie sich, als hätte sie einen Darmkrampf und müsste die Schäferstunde eher mit Furzen verbringen. Die Trennung brachte jeweils auch das Ende der erotischen Anziehung.
    Als trotte sie über eine breite, staubige Landstraße, auf einem Weg ohne Ende, ohne Anfang. Obwohl sich jede ihrer Zellen, jedes ihrer Haare an den paradiesischen Zustand erinnerte, den sie hinter sich gelassen hatte und aus eigener Ungeschicklichkeit nicht wiederfand. Aber heimliche kleine Pfade schienen doch die große Landstraße zu kreuzen.
    Was ihr mehr bedeutete, als wenn sie ihre Mutter gefunden hätte.
    Wenn sie über solche Dinge nachdachte, erschien vor ihr das Bild der nunmehr zehn Jahre und auf ewig jüngeren Frau, die wahrscheinlich immer noch über diese trostlose Landstraße wanderte.
    Jetzt aber empfand sie etwas, das man einen Freispruch nennen könnte und das mit dem Glück verwandt ist.
    Vielen Dank, ich bin glücklich, das wollte sie eigentlich sagen.
    Auf einmal so glücklich. Und wenn ihr nicht eingefallen wäre, dass alles vergänglich ist, wären ihr tatsächlich die Tränen gekommen. Besser, dass sie es nicht gesagt hatte, das Glück ist vergänglich, da sind ja ihre Bitterkeit, und die dünne Luft auf der Hochebene der Frustration, und ihre heftigen Selbstvorwürfe. So plötzlich hätte sie auch nicht gewusst, wie sie Ágosts Mutter anreden sollte. Das wusste sie allerdings auch sonst nicht und vermied es deshalb nach Möglichkeit. Auch wenn es ihr schwerfiel zu akzeptieren, dass Frau Erna sie ohne weiteres duzte, konnte sie nichts machen, sich auch nicht so weit vorwagen, sie ebenfalls zu duzen. Das würde sie tun, wenn sie erst eine große Sängerin wäre. Jetzt aber hätte sie Frau Erna trotzdem gern geduzt, denn mit dem Druck ihrer behandschuhten Hand hatte die alte Dame nicht nur ihr Realitätsgefühl gelähmt, sondern auch ihrer Phantasie freien Lauf gelassen, sie enthemmt. Sie fühlte, wie eine Möglichkeit, die Ágost ihr von jeher nie ganz gewährt oder nie ganz entzogen hatte, frei und ungehindert strömte. Mit ihm lebte sie in einem Zustand dauernder Erregung. Die Leidenschaft, die die Mutter ohne Aufhebens freiließ, musste ähnlich geartet sein wie die Leidenschaft, die im Sohn manchmal aufglühte und nie ganz erlosch. An die Mutter musste sie sich halten. Und wie eine andere, letzte Möglichkeit erschien ihr auch der Traum vom Morgen. Vielleicht wollte er sie vor übertriebenen Hoffnungen bewahren.
    Das mächtige, unüberblickbare, von Tiefenströmungen durchzogene

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