Paranoia - Hoer Auf Ihre Stimme
schreckte hoch. »Was war das? Hast du das gehört?«
Er wusste nicht, was sie meinte.
»Hat da ein Handy geklingelt? Ich glaube, ich habe es vorhin schon einmal gehört.«
Sie stieß die Tür auf und stieg aus dem Wagen. Tolan gesellte sich zu ihr. Lisa zeigte auf die Pfefferbäume. »Es kam von dort.«
Tolan starrte in die Dunkelheit, doch in Gedanken war er ganz woanders. Alles, woran er denken konnte, war Abby. Seine Abby. Auf einem Bett in seiner Klinik.
»Jetzt höre ich nichts mehr. Vielleicht werde ich allmählich paranoid.« Lisa drehte sich um, ihr Blick fiel auf den Kofferraum des Wagens. »Wir sollten die Leiche lieber reinbringen. Im Keller steht ein alter Verbrennungsofen. Da können wir sie verschwinden lassen.«
Tolan hörte nicht mehr zu. Er ging in Richtung der Pfefferbäume. »Ich muss zu Abby. Ich muss das klären.«
Wie um seine Worte zu bestätigen, frischte der Wind auf, ließ die Blätter rascheln und heulte in den dunklen Löchern der Fenster und Türen des alten Klinikgebäudes.
Lisa hielt Tolan am Arm fest. »Was hast du vor?«
»Ich muss zu ihr. Sie ist meinetwegen hier.«
»Alles, was du jetzt zu tun hast, ist, mir behilflich zu sein, sonst geht keiner von uns jemals wieder irgendwohin.«
»Nein«, sagte er und riss sich los. »Sie braucht mich.«
»Sie braucht dich nicht, Michael. Sie will dich töten.«
»Das ist mir egal«, sagte er und ging weiter auf die Pfefferbäume zu. »Ich muss sie sehen.«
»Halt, Michael! Dafür ist es zu spät.«
Er blieb stehen und drehte sich um. Abermals stieg Furcht in ihm auf. »Wie meinst du das, es ist zu spät? Was hast du getan?«
»Es hat bereits begonnen. Wenn du bei ihr bist, ist sie schon tot.«
Tolan ging auf sie zu. Eine plötzliche Wut überkam ihn. »Was hast du getan?«
Lisa hob die Arme und wich zurück bis zum Wagen. »Ich habe getan, was ich tun musste. Ich habe gemeinsam mit dem alten Mann Vorbereitungen getroffen. Ich hätte es selbst getan, aber als ich deine SMS erhielt …«
»Was hättest du selbst getan?«
»Sie davon abgehalten, dir weh zu tun. Uns weh zu tun! Sie ist böse, Michael. Verstehst du das nicht?«
»Du hast ihn auf sie angesetzt?«
»Ja«, sagte Lisa, dann schüttelte sie hastig den Kopf. »Nein, er ist mir nur behilflich. Er weiß, wie gefährlich sie ist und was sie anrichten kann.«
Tolan fühlte, wie sich seine Wut verstärkte, so wie der Wind heftiger durch die Bäume wehte. Ihm schien, dieser Sturm wütete in seinem Innersten.
War es so auch bei Abby gewesen? Bei Anna Marie?
»Wen noch?«, schrie er. »Wen hast du noch auf sie angesetzt?«
Zunächst schwieg Lisa, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Dann sagte sie: »Ich habe es für dich getan, Michael. Für uns.«
»Wen?«, schrie er.
Sie ließ die Arme sinken. Mit zitternden Lippen beantwortete sie endlich seine Frage.
»Bobby Fremont.«
Plötzlich ertönte von weit entfernt hinter den Bäumen ein Feueralarm.
TEIL 6
Die Kinder,
die die Welt ins
Gleichgewicht bringen
53
Zehn Minuten, bevor der Alarm losging und der Rhythmus zum letzten Schlag ausholte und in der alten, verlassenen Klinik sämtliche Elemente zusammenfügte, dachte Solomon St. Fort noch einmal im Detail darüber nach, was er zu tun hatte. Er hoffte, alles würde so verlaufen, wie sie es geplant hatten.
Als die Krankenschwester vor einigen Stunden noch einmal zu ihm gekommen war und ihm erzählte, was sie gesehen hatte und wen sie schützen wollte, hatte er ihr sogleich seine Hilfe zugesichert. Sollte die Frau, die nicht mehr ganz Myra war, ihre Transformation noch nicht gänzlich vollzogen haben, gab es noch eine Chance, dass er diesen Vorgang umkehren und sie dorthin zurückschicken konnte, wo sie hergekommen war.
Er wusste nicht, ob die Beschwörungsformeln, die sein Großvater ihm einst beigebracht hatte, wirksam wären. Er selbst hatte sie niemals anwenden müssen, er war nicht einmal sicher, ob Großvater es jemals getan hatte. Doch wenn er Myra zurückholen wollte, war es einen Versuch wert. Er hatte inzwischen erkannt, dass es für ihn selbst an diesem Tag um weit mehr ging als um Myra.
Es ging um Erlösung. Um die Erlösung einer Seele, die durch eine Lüge Verletzungen davongetragen hatte. Durch eine Lüge, an die er bereits viel zu lange zu glauben versuchte.
Hätte der Rhythmus ihn nicht dabeihaben wollen, wäre er jetzt nicht hier. Seine Zustimmung der Krankenschwester gegenüber, sein Einverständnis, die Tat zu begehen – was eine immense
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