Paranoia - Hoer Auf Ihre Stimme
erfährt Tolan von dem Brandzeichen. Wenn nicht von Soren oder Jane X, dann direkt von Hastert, den er im County General behandelt haben könnte. Soren hatte gesagt, Tolan habe nicht oft Patienten kostenlos behandelt, doch das musste nichts heißen.
Einige Monate nach dem Mord an Abby Tolan – angeblich Vincents achtem Opfer – reimen sich Hastert und sein Kumpel Janovic alles zusammen, machen sich an Tolan heran und drohen, ihn auffliegen zu lassen. Irgendwann hat Tolan die Nase voll davon, sein Konto zu plündern, und tut, was er tun muss. Er tötet beide und lässt es abermals so aussehen, als ginge es auf das Konto des Serienmörders.
Mittlerweile nutzt Vincent – der echte Vincent – den Todestag der Ehefrau, um mit Tolan abzurechnen, weil dieser ihm die Show gestohlen hat. Doch das reicht ihm nicht. Warum nicht Tolan alle Morde in die Schuhe schieben?
Blieb noch die Frage, wie Carmody in dieses Bild passte. War sie Teil der Konstruktion? Ein letztes Opfer, um den Sack zuzumachen?
Blackburn wurde abermals schlecht. Er wollte es einfach nicht glauben. Wollte nicht glauben, dass das Ohr in der Plastiktüte Carmodys war, doch der Rubin sprach für sich.
Er öffnete das Handschuhfach und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass derjenige, der diesen Wagen zuletzt gefahren hatte, Raucher war.
Und, oh Wunder, er entdeckte eine zerknitterte Schachtel Winston. In der Packung befand sich noch eine einsame, verbogene Zigarette. Blackburn steckte sie in den Mund und drückte auf den Zigarettenanzünder.
52
»Sie lebt? Wie kannst du so etwas sagen?«
»Weil es stimmt«, antwortete Lisa. »Abby lebt. Was du heute in dieser Zelle gesehen hast, war vollkommen real. Wie der alte Mann gesagt hat.«
»Was hast du nur immer mit diesem alten Mann?«
Plötzlich fiel es Tolan ein. Am Vormittag hatte Blackburn einen alten obdachlosen Glatzkopf erwähnt, der behauptete, er sei ein Bekannter von Jane X. War das der alte Mann, von dem Lisa die ganze Zeit sprach?
»Du musst mir glauben, Michael. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Als Cassie mir das Tattoo zeigte, wusste ich, all das stimmt.«
»Welches Tattoo?«
»Das Hello-Kitty-Tattoo.«
»An Janes Schulter?«
»Da war es. Cassie hat mir die Aufnahme der Beobachtungskamera gezeigt. Es war wie ein Special-Effect in einem Film. Das Tattoo verschwand vor unseren Augen. Ich glaube, danach brauchte Cassie erst einmal einen schönen großen Drink.«
Tolan fühlte ein Kribbeln auf seiner Kopfhaut.
»Nur damit ich es richtig verstehe«, sagte er. »Du willst mir erzählen, das Hello-Kitty-Tattoo ist nicht mehr da? Verschwunden?«
Lisa nickte. »So war es auch mit den Einstichen, den Augen und allem anderen, was du gesehen hast.«
Nein, dachte Tolan. Das konnte nicht sein. Diese Art Unsinn widersprach allem, woran er glaubte. Doch hatte Clay nicht Heterochromie diagnostiziert? Und hatte Cassie nicht Janes veränderte Augenfarbe bestätigt? Hatte Blackburn nicht darauf bestanden, er habe die Einstiche gesehen? Hatte Jane nicht dieses verfluchte Lied gesungen?
Mama got trouble Mama got sin
Mama got bills to pay again
Tolan hatte gedacht, er würde den Verstand verlieren, doch wenn Cassie, Blackburn, Lisa und Clay all diese Dinge auch gesehen hatten, war Lisa vielleicht im Recht. War das, was er für eine Wahnvorstellung hielt, etwa gar keine gewesen?
»Sie ist es, Michael. Es ist Abby. Sie ist ein Entleiher. Un emprunteur .«
»Ein was?«
»So hat der alte Mann sie genannt. Sie ist von den Toten zurückgekehrt und hat sich den Körper einer Freundin geliehen.«
Tolan versuchte, all das zu begreifen, doch es schien ihm nach wie vor absurd. Er hatte sein Leben damit verbracht, rationale Lösungen für die Probleme der Menschen zu finden, ihren Wahnvorstellungen und ihrem Aberglauben durch vernünftige Erklärungen entgegenzuwirken. Doch trotz seines inneren Widerstands wollte ein Teil von ihm daran glauben. War es tatsächlich Abby, die dort in der Klinik auf dem Bett lag?
»Warum sollte sie zurückgekommen sein?«, fragte er.
»Was glaubst du wohl, warum? Wegen eines wundervollen Wiedersehens sicherlich nicht. Du hast sie getötet, Michael! Du hast sie umgebracht.«
»Nein«, sagte er. »Das glaube ich nicht, ich –«
»Hör auf. Du weißt, dass es so war.«
»Aber warum kann ich mich nicht daran erinnern? Warum erinnere ich mich an keinen der Morde? Abby. Anna. Carmody …«
»Weil du es verdrängt hast. Genau wie deine …« Sie unterbrach sich,
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