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Paranoia

Paranoia

Titel: Paranoia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Felder
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das alles wie durch einen milchigen Schleier, als würde ich es nicht genau jetzt erleben, sondern Revue passieren lassen.
    Das Baumeln an meiner Brust, als ich mich leicht vorbeuge und meinen Stuhl zurechtrücke, weist mich darauf hin: Mein Gesamtbild wird durch einen laminierten Ausweis mit Foto, den ich an einer Schnur um den Hals trage, gestört. Verstohlen nehme ich ihn ab, ziehe ihn langsam und möglichst unauffällig über den Kopf und lege ihn auf den Tisch. In diesem Moment sieht P zu mir, und ich fange an, noch stärker zu zittern, weil ich weiß, dass ich jetzt an der Reihe bin. Ich habe tatsächlich so was wie Lampenfieber. Mein Name fällt, er zeigt mit dem Arm auf mich und schaut wieder zu den Reportern.
    Die Fragen prasseln auf mich ein. Marktschreierisch. Alle auf einmal. Das Hinlängliche. Sattsam bekannte Erkundigungen nach der Befindlichkeit, der Motivation, dem Ablauf. Erstgeht’s durcheinander, drunter und drüber. Dann sorgt die brünette Schickse für Ordnung, bitte der Reihe nach, ja Sie hier vorn, – yes you – ja Sie zuerst, bitte. Ich bin mit einem Mal sehr müde. Müde wie noch nie zuvor. Aufwachen. He, wach auf. Erde an Conrad. Erste Frage: »Wie lief die Detonation genau ab?« Noch bevor ich etwas sagen kann, ruft jemand etwas Unverständliches dazwischen, was alle Anwesenden kurz aufsehen und sofort darauf einen Behalt’s-für-dich-Blick abfeuern lässt. Eine Blitzablenkung. Ich antworte auf die vorangegangene Frage mit einer Stimme, die, wie ich selbst finde, gestelzt klingt. Suche und finde zitierfähige Aussagen, fasse mich kurz, gebe mich bereitwilliger, als mir zumute ist. Denn nichts ist schlimmer, als jemandem etwas aus der Nase ziehen zu müssen.
    Zweite Frage: »Was haben Sie gefühlt, als …« Gott, was für eine Scheißfrage, die burschikose Hosenanzug-Lady, die das wissen will, scheint noch grün in ihrem Job zu sein. Ich hebe Schultern und Augenbrauen, verharre einen Moment so und lasse beides wieder fallen. Antworte dann bewusst kleinlaut, damit sie mein Verhalten nicht etwa in den falschen Hals bekommt, denn ich habe wirklich einen Heidenrespekt vor ihrer Macht. Was sie schreibt, werden unter Umständen Legionen lesen. Ich bleibe konstant scheinlocker. Mit Lässigkeit kommt man viel weiter. Es funktioniert. Meine Hände öffnen sich beim Sprechen wie ein Buch. Funktioniert auch. Tadellos.
    Dritte Frage: »Wann kam die Entscheidung auf, Natalija Madowa (so heißt der schwangere Pottwal also) zu Hilfe zu eilen?« Das fragt Pro7. Auch da. Während ich das Gesicht des Reporters nach einem Funken Ironie absuche, versuche ich mich auf das erleichternde Gefühl zu konzentrieren, dass das hier auch vorbeigehen wird. Ich gebe zu Protokoll, was ich für sinnvoll halte, vermeide pathetische Bescheidenheit und unterdrücke gleich darauf die daraus resultierende übertriebeneScheinheiligkeit. Verwende ausgefallenes Vokabular und weniger naheliegende Formulierungen, weil ich das Gefühl habe, schlau rüberkommen und etwas bieten zu müssen. Denn die Wahrheit, die ich zu erzählen hätte, wäre bestenfalls eine Geschichte von verstörender Qualität.
    Ich komme in Schwung; ermahne mich manchmal ruhig, ganz ruhig zu bleiben, wenn ich zu hyperventilieren beginne, bin aber inzwischen eher erregt als verängstigt. Überprüfe mich, immer wieder. Ich erfahre, Natalija Madowa sei heute bei der Kernspintomographie, und sie möchte sich bei mir bedanken. Uh, nee. Sprich: oh, ja, großartig, noch eine Frage? Nur zu, noch eine Antwort, bitte schön, da ist sie, faselfasel. Und plötzlich bin ich völlig zufrieden damit, einen falschen Eindruck von einem falschen Hergang zu hinterlassen, denn meine Theorie lautet: Wenn erst mal genug Leute an eine Lüge glauben, ist es eben keine Lüge mehr. Dasselbe gilt für Gott, dasselbe gilt für Moral, dasselbe gilt für Tradition, dasselbe gilt für so ziemlich alles.
    Ja, was wäre denn, wenn die Wahrheit auch nur eine Lüge wäre?
    Ein Holländer mit Knopf im Ohr ruft mir was zu, nennt zuerst den Sender, für den er arbeitet. Seine Haut ist so braun gebrutzelt, wie Ente süß-sauer, so braun, dass seine Zähne jedes Mal aufblitzen, wenn sie sichtbar werden. Er wirft einen Blick in seine Unterlagen, kramt in seiner Zettelwirtschaft, formuliert gleichzeitig seine Frage. Währenddessen mache ich meinen obersten Kragenknopf auf, allmählich wird mir warm. Die Sonne kreist um mich. Ich bin der Held, den keiner braucht. Na und? Noch eine Frage, klar,

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