Paranoia
bitte, ich schieße ja aus der Hüfte. Eine weitere Situationsschilderung. Um dieser meiner Aussage besonderen Nachdruck zu verleihen, steche ich mit meiner Zeigefingerspitze auf die Tischplatte ein.
Wozu das alles? Was mache ich hier? Ich will mich nicht inEinzelheiten verlieren, aber eine Seite in einem kann es nicht verhehlen: Man kommt endlich in seinem wahren Leben an. Dort sein, wo man hingehört. In die öffentliche Aufmerksamkeit. Das menschliche Wesen folgt da einer klaren Gesetzmäßigkeit. Mein Präsentationsdrang ist endgültig größer als mein Nervenflattern. Ist das verwerflich? I wo. Es ist nur recht und billig. Strenggenommen weiß ich gar nichts mehr. Außer, dass die Welt, so wie ich sie kenne, endgültig aus den Fugen geraten und mit dieser Pressekonferenz unwiderruflich untergegangen ist. Zäsur, Einschnitt, Weichenstellung. Himmel, bin ich drauf. So sehr, dass ich weiß, ich werde erst Stunden später abschalten können.
Letzte Frage? Ja, komm, immer her damit. Der südamerikanisch anmutende Schreiberling wirkt mit seinen zurückgekämmten feuchten Haaren ein bisschen wie ein Otter. Er stellt sich als Lopez vor. Lopez, Gonzalez, Martinez, Alvarez, Rodriguez, Estevez, Ramirez.
Keine Beton-Eselsbrücke der Welt vermag mir zu helfen, mir hispanische Nachnamen zu merken. Für mein Hirn phonetisch zu wenig unterscheidbar. Seine Frage zielt auf die Erstversorgung ab. Meine Antwort folgt auf dem Fuße. Nicht zuletzt, weil einem mittlerweile alles, was gesagt oder geschrieben wird und was man selbst sagt oder schreibt, so bekannt vorkommt, als ob man’s schon irgendwo gehört hätte, versuche ich sogar schon, verinnerlichte Sätze aus der Floskeldatenbank weitestgehend zu vermeiden. Dazu ein beherzter Griff in die Grimassenkammer. Und für einen Moment schwankt der Boden unter mir, und ich halte alles für irreal. Aber real, das ist es: die Meute vor mir, die Geschichte, die ich erzähle. Und als ich vier Minuten später den Saal auf dem Weg nach draußen durchquere und dabei einen Stapel mir entgegengestreckter Visitenkarten einsammle, überkommt mich ein Schaudern. Wie eine Ermahnung. Und mir geht auf: Manche Geschichteerzählt man, und dadurch erledigt sie sich – aber diese Geschichte, diese Geschichte erledigt mich. Endgültig. Wer in den Himmel spuckt, kriegt es wieder zurück. Alles wird rauskommen. Meine A. L. I.-Entgleisung, mein Brief an Lutz, mein Marischka-Alleingang, die Suizidversuch-Zugabe bei der Flugzeugkatastrophe, und ich weiß immer noch nicht, wo ich die beiden Tage nach meiner Beförderungsfeier war, als ich neben Lutz’ Tochter aufgewacht bin. Ein irritierendes Resümee alles Vorausgegangenen. Ich schlucke nicht. Schlucken ist für heute gestrichen.
Knüppeldick wird es kommen. Keine große Denkleistung. Ich habe mittlerweile zu viel Dreck am Stecken. Ich bin fällig.
Doch bin ich schon zu weit gegangen, um jetzt noch stehen zu bleiben, ehe ich nicht das Ende gesehen habe.
Es wird bestimmt unerträglich wehtun, wenn ich auf dem Boden der Realität aufschlage. Aber ich möchte verdammt sein, wenn der Weg dorthin nicht der reinste Rausch ist. Halleluja.
Es möge geschehen.
42
Während ich mit Joel telefoniere, schaue ich in Bens Augen, in denen ich das sehen kann, was er auch in meinen sieht. Raumgreifendes Misstrauen. Er fläzt sich auf einem Stuhl in der Ecke. Die ganze Zeit schon behält er mich im Blick. Sieht nicht ein einziges Mal weg, wenn ich zu ihm hinsehe.
Joel hat von München aus alle Formalitäten mit den Behörden geklärt. P soll sehr zuvorkommend gewesen sein. Noch heute können wir Moskau verlassen.
»Das ist großartig, danke. Du bist als Anwalt doch nicht soschlecht, wie alle sagen. Ein richtig abgefeimter Winkeladvokat. Danke auch von Ben«, murmle ich munter, ausgestreckt auf der weichen Couch meines Hotelzimmers liegend, und wende meinen Blick dabei von Bens regungslosem, gespenstisch bleichen Gesicht ab. Er ist so aufgebracht, wie ich ihn noch nie erlebt habe. Unsere vorangegangene einstündige, phasenweise melodramatische Diskussion rund um alle Aspekte des Themas »Hast du (– also ich –) schon mal an eine Therapie gedacht? Du (– also ich –) bist psychisch schwer krank!« ist vorüber, steht ihm jedoch noch ins Gesicht geschrieben. Ich habe ihm meine größte Dankbarkeit versichert, wenn wir nicht mehr über das Thema reden.
Natürlich krame ich dauernd verzweifelt in meinem Hirn, irrlichtere darin umher. Ich bin mir doch im Klaren
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