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Paranoia

Paranoia

Titel: Paranoia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Felder
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paar Nike Turnschuhe. Etwas anderes ist mir nicht eingefallen. Es ist aber auch schwierig. Gut, das alles hätte ich ihm auch an jedem anderen beliebigen Ort der Welt kaufen können, aber soll ich ihm tatsächlich was scheiße-nochmal-Landestypisches mitbringen? Was könnte das sein? Wodkaflaschen? Eine Replik des Kremls? Eine Büste von Dostojewski? Fotos von Schnapsleichen? Babuschkas? Das geht einem Achtjährigen doch ganz sicher komplett am Arsch vorbei. Fynn packt alles aus, und wie ich es mir gedacht habe, ist er happy. Punktum.
    Die Scheinwerfer verscheuchen die Dunkelheit. Ich fahre ihn zurück ins Heim. So ist das eben. Traurig.
    Wir sind beide ein wenig groggy, und mir ist nicht unbedingt danach, jetzt noch mal nachzuforschen, obwohl ich es für richtig und wichtig halte. Kurz versuche ich mir das bequemere Nichtansprechen des Themas schmackhaft zu machen und es zu verschieben. Doch ich tue das Gegenteil.
    Ich sage Fynn, dass mir Esther das mit dem Jungen aus der höheren Klasse erzählt hätte, und bin überrascht, dass das schon reicht, um Fynns Schweigen zu brechen. Schon nach seinem ersten tiefen Einatmen weiß ich, jetzt kommt’s. Und zwischen zig Schluchzern schildert er mir das ganze Martyrium, dem ihn der drei Jahre ältere Patrick aussetzt. Die ganzen Details tun hier nichts zur Sache. Aber es ist schrecklich.
    Während der ganzen Geschichte starre ich wie benommen nach vorn auf die Straße. Am Heim angekommen, reden wir noch gut eine halbe Stunde im Wagen sitzend weiter. Es ist fast sieben, als ich ihn zur Eingangstür bringe und ihm die Tüten in die Hand gebe. Umarmung. Mein letzter hilfloser Satz lautet: »Mach dir keine Sorgen.« Er verschwindet in dem Gebäude, wird gleichsam von der Nacht verschluckt.
    Langsam beschleunige ich. Kein bisschen Mond scheint heute, es ist ein dunkler Abend. Das Radio ist an. Volume-Regler auf acht. Zwischen zwei Songs kommt ein träger Untoter zu Wort. Redefluss-Geschwindigkeit zäh wie dickflüssiger Leim. Wieso sprechen Radiomoderatoren morgens so nervig überdreht wie auf Speed und abends so narkotisierend wie Schlafwandler? Das müsste eher umgekehrt sein. Und warum sagt Hinz und Kunz dauernd »sozusagen«? Es folgt eine einschläfernde Wettervorhersage. Wusste ich’s doch. Aus.
    Gleich die erste Ampel um die Ecke ist rot. Ich höre das mechanische Flappen der Scheibenwischer. Die Frau im Wagenvor mir prüft ihre Frisur im Rückspiegel, nestelt in den Haaren, zupft rum, fährt mit spitzen Fingern durch, legt eine Strähne exakt auf Richtung, schüttelt an den Seiten und glättet dieses und jenes. Ich bezweifle, dass das einen sichtbaren Unterschied zwischen vorher und nachher macht. Grün. Ich hupe, als sie nach einer Hundertstelsekunde nicht sofort anfährt. Ich überhole noch auf der Kreuzung, wir sind schließlich mitten in der Stadt, da fährt man anders als da, wo du herkommst, Madame. Sie hebt ihren Arm. Manche Leute müssen immer ihren Senf dazugeben.
    Als ich an der nächsten Kreuzung einbiege und auf dem Seitenstreifen halte, um durchzuatmen und eine Insidon einzuwerfen, sehe ich drei Jungs die Straße überqueren. Gefährliche Visagen, ist mein erster flüchtiger Eindruck. Mit ihrem wippenden, breitbeinigen Gang suggerieren sie lautes und sicheres Auftreten. Ich möchte schon wieder wegsehen und mich zum Handschuhfach mit den Tabletten beugen, da kommt mir mein zweiter Eindruck in die Quere: Ach, du dickes Ei. Manche Sachen sind derartiger Zufall, dass sie eigentlich nicht wahr sein können. Einer der drei ist nämlich eine Wurstlippe. Könnte das der besagte Patrick sein? Der Neger? Ich habe ihn noch nie gesehen, aber wie viele Afros wird es hier schon geben? Eine 90 zu zehn Chance. Ich fahre rechts ran, ziehe den Zündschlüssel langsam ab und steige zögerlich aus. Ich möchte es mir selbst ausreden und meine Mutmaßung als »total unwahrscheinlich« abtun, weil ich gleichzeitig auch keine Lust darauf habe. Konflikt zwischen Aufbruch und Trägheit. Aber ich setze mich in Bewegung. Dann mal los.
    Schnellen Schritts hole ich die drei ein. Tick, Trick und Track in der Gossen-Ausgabe. Der Bimbo geht in der Mitte. Elf Jahre? Das könnte hinkommen. Zwei Kopf kleiner als ich. Er trägt eine blaue Jacke mit Fellkragenkapuze. Ich packe ihn an der Schulter, er dreht sich um und sagt »hey«, ich sehe insein pechschwarzes Gesicht (das nicht ganz so dunkel ist wie Fynns), es hat den Sich-dauernd-provoziert-fühlenden

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