Paranoia
wohlweißlich auf jedwede Protestaktion verzichten, da man Gefahr laufen würde, eingebuchtet zu werden oder sonstige Konsequenzen zu erleiden. Und das wäre keinem dieser Naseweise die Sache wert. Gemessen an dem gemütlichen Abend, den sie sich gleich im Anschluss daheim neben der Heizung machen werden, ist ihnen
die Sache
sowieso weit weniger wert, als ihnen bewusst ist.
Wir sind an der Demo vorbei. Fynn läuft rückwärts, Hände in der Jackentasche, und schaut dem Pulk hinterher. Ich knuffe ihn leicht in die Seite. Er dreht sich wieder nach vorn. Irgendwann werde ich ihm beibringen, dass man sich nicht an die üblichen Anteilnahme-Rituale halten muss, wenn diese keinem relevanten Zusammenhang mit einem selbst entstammen. Auf dass er mir nur nicht so beschränkt wird wie die anderen, die größte Sorgfalt darauf verwenden, so zu ticken wie alle moralisch Korrekten mit eklatant abstrakten Schwerpunkten. »Abstrakte Schwerpunkte« im Sinne von: Topverdiener-Ehepaar aus Nobelviertel schickt Kinderspielzeug in Kriegsregion. Weil sie das für
wirklich existenziell
halten. Der Großteil wohlstandsgesicherter Menschen hierzulande engagiert sich für das Falsche. Nämlich für das, was sie aus ihren eigenen Lebensumständen schlussfolgern und anderen als Grundbedürfnis oktroyieren. Sie setzen sich ein für etwas, dassie nach ihren eigenen Maßstäben als Defizit klassifizieren und in andere hineininterpretieren.
Irgendwann werde ich mit Fynn darüber reden. Aber das kann warten. Einflussnahme auf ein Kind ist ein wahrer Drahtseilakt.
Zumal er sowieso in einer gesellschaftlich anderen Welt leben wird, in der meine Erfahrungen längst keine Gültigkeit mehr haben.
Wir entern das Kino und kaufen Tickets für die 15-Uhr-Vorstellung. Ich höre die Abfolge von Nullsätzen – »Und zwei Euro zurück«, »Beeilung, fängt gleich an«, »Die Tickets bitte, danke schön, Kino 7, gleich hier nach oben bitte«. Deutscher Film. Langweilig. Unser beider Meinung. Wenig überraschend, denn wie in jeder heimischen Produktion war auch diesmal Verlass auf: (1) Schauspieler schniefen mit der Nase, wenn sie so tun, als würden sie weinen, weil sie zu untalentiert zu glaubhafter Darstellung inklusive Tränenfluss sind. (2) Statt »Nein« wird ausschließlich »Ach Quatsch« gesagt, weil Drehbuchautoren das irrtümlich wohl für dramaturgisch effektiv halten. (3) Deutsche Schauspielerinnen, auch die, die uns als attraktiv verkauft werden, sehen alle so aus, als würden sie aus dem Mund riechen. Und aus dem Schritt.
Fynn und ich haben nicht mal Lust auf eine Nachbesprechung. Aber wir ärgern uns auch nicht über diesen Flop. Eine Grundsatzentscheidung, die wir schon vor längerem gemeinsam gefällt haben: Man muss auch bei einem Mistfilm erst mal rausfinden, dass er schlecht ist. Das kann einem niemand abnehmen. Folglich: kein Verdruss. Genauso, wie man vor einem guten Film ja schließlich auch nicht weiß, was einen erwartet. Ja ja. Über dieses Thema haben wir schon Stunden philosophiert. Und üben uns also in Stoizismus. Wir sind sehr weise. Für unser Alter.
Unterwegs zum Wagen trotten wir zwei Menschen (D-Schublade)hinterher, die zu laut über irgendwas reden und denen wir ungewollt zuhören müssen. Wir amüsieren uns über sie mit kleinen Gesten: Würgen, Zustechen, sich mit der flachen Hand die Kehle durchschneiden. Nachdem wir beide symbolisch mit geschätzten zweitausend Stichwunden in den Rücken hingerichtet haben und sie sowieso in eine Seitengasse abbiegen, lasse ich Fynn wissen, dass seine Lehrerin sich gegenüber Esther sehr positiv über seine schulischen Leistungen geäußert hat und mich das sehr freut. Er tut so, als sei ihm das egal. Dann sage ich ihm, dass ich natürlich gelogen habe, als ich sagte, ich hätte ihm nichts aus Russland mitgebracht. Wäre ja noch schöner. Das ist ihm hingegen nicht egal. Wenig verwunderlich, wir ziehen das Schritttempo an. Zum Zeichen guter Kameradschaft veranstalten wir auf dem Weg noch eine Ich-ziehe-dir-die-Mütze-runter-und-du-verfolgst-mich-Schlacht. Er lässt mich gewinnen, wahrscheinlich weil er keine Chance hat. Und ich keine Mütze aufhabe.
»Jetzt gib schon her, Menno«, ruft er. Ich parodiere ihn und händige ihm das Designerteil (mein letztjähriges Weihnachtsgeschenk), das irgend so ein Hip-Hop-Proll mal in einem Video getragen hat, unverzüglich gnädig aus. Es ist längst dunkel.
Im Auto. Was ich ihm mitgebracht habe, ist ein Mix aus DVDs, CDs, Videospielen und ein
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